Uwe Timms „Freitisch“: Frühling der Freiheit

Ich gebe gern zu: Die frühen 1960er Jahre sind bis heute meine Lieblingszeit. Zum einen zählten sie zur eigenen, noch nicht so recht bewussten Frühphase, zum anderen wurden damals all die kleinen Freiheiten noch eher spielerisch erprobt, um die man später so erbittert gestritten hat. Kein Wunder, dass gerade zu dieser Zeit die Beatles aufkamen. Sie haben anfangs so überaus zuversichtlich geklungen…

Warum ich das so ausgiebig darlege? Weil Uwe Timms neue Novelle „Freitisch“ in jenen Jahren spielt und somit bei mir schon vorab einen Extra-Bonus bekommt, ebenso wie der in langen Jahren vertraut gewordene Autor. Das sind natürlich keine genuin literarischen Kriterien, sondern zunächst Sympathiewerte, die jedoch auf Erfahrung fußen. Außerdem liest man auf der Basis von Sympathie einlässlicher als sonst, gleichsam mit weit offenen Nüstern.

Worum geht’s? Um ein studentisches Quartett, das am Beginn der 60er in München allmittäglich just an einem Freitisch beisammen sitzt und die von einer Versicherung gesponserten Mahlzeiten verzehrt. Bei Tisch ergibt sich die eine oder andere Debatte. Der Zahlenmensch mit dem Spitznamen Euler bringt dabei vor allem seine Verehrung für den nach seinem Gusto einzig wahren Autor zum Ausdruck: Arno Schmidt. Um seine Bemühungen, Schmidt einen Besuch im einsamen Bargfeld abzustatten, ranken sich später Legenden. Ein angehender Jurist und ein werdender Schriftsteller (der Schmidts Sprachspiele nicht mag) gehörten seinerzeit gleichfalls zur Tischbesetzung.

Das Buch setzt freilich Jahrzehnte später ein. Tief im provinziellen Osten, in Anklam, hat sich einer der damaligen Freitischler mit seiner norwegischen Frau niedergelassen. Der Studienrat ist inzwischen pensioniert und sammelt antiquarische Reliquien zum rebellischen Jahr 1968 – und zu Arno Schmidt. Sieht also ganz so aus, als sei er den Idealen der Jugend ziemlich treu geblieben.

Bei „Euler“ verhält es sich auf den ersten Blick anders: Er ist ein großer Hecht in der Abfallwirtschaft und will ausgerechnet in Anklam in eine Deponie investieren. Von seinem Termin mit dem örtlichen Wirtschaftsförderer hat der Studienrat und Ich-Erzähler Wind bekommen. Nun treffen sie sich auf einen Kaffee und lassen die Erinnerung schweifen. Allerdings haben die beiden wenig Zeit, denn der Termin im Rathaus steht an.

Trotzdem kommen jetzt die frühen 60er ins Spiel. Die Zeit, als man es noch riskierte, mit dem Kuppeleiparagraphen in Konflikt zu geraten, wenn man ein Mädchen mit aufs möblierte Zimmer nahm. Die Zeit, in der Studenten einander noch nicht duzten und schon gar nicht larmoyant über Beziehungskisten oder Trennungen redeten. Lektüren von Freud bis Reich folgten erst danach. Die Zeit der allerersten Happenings, bei denen etwa ein Klavier mit der Axt zerspalten wird. Die Zeit, über die Euler sagt: „Da ging eben noch alles zusammen, damals: Hasch, Ernst Jünger und die illegale KP.“ Und ein andermal: „War ´ne muntere Zeit, die frühen Sechziger, werden ja immer als langweilig gehandelt. Dabei wurde all der Zunder gesammelt, der dann später achtundsechzig die Feuerchen machte.“

Und so werden denn die Zwiegespräche zur wehmütigen Rückschau auf eine Zeit der Erwartung, der Vor-Bereitung, des Vorscheins. Man sucht auszuloten, was damals reif und unreif war, was verloren ging und was sich im Lichte der Lebenserfahrung ganz anders darstellt. Seinerzeit spannte sich das Denken zwischen Heidegger und Marx aus, jetzt – so ein Lamento – habe man es vorwiegend mit Punks oder Neonazis zu tun.

Das von der Historie vielfach verwundete Anklam erweist sich als heimlicher Hort der unscheinbaren, kleinen Hoffnungen, die man irgendwie am Leben halten muss. Gewiss: Eine Mülldeponie mag Arbeitsplätze dorthin bringen, doch ist sie nur ein Nebenschauplatz. Vielleicht weist ja die schöne List einen Weg, mit der man damals Arno Schmidt düpiert hat und die hier nicht verraten wird.

Ein Hauch von Resignation scheint durch die letzten Sätze des Buches zu wehen, freilich könnte man sie auch als Einleitung zum Aufbruch deuten: „Die Bedienung kam, fragte, darf’s noch was sein. Nein danke. Nur noch zahlen.“

Uwe Timm: „Freitisch“. Novelle. Kiepenheuer & Witsch. 136 Seiten, 16,95 Euro.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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1 Antwort zu Uwe Timms „Freitisch“: Frühling der Freiheit

  1. Klaus Schürholz sagt:

    Danke für den Tipp. Klingt spannend, wie sich eine (alo nicht nur eine, sondern d i e ) Generation über die Jahre auffächert, von München bis Anklam.

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