Zum Gedenken an den Holocaust

Es war heute vor 67 Jahren, da befreiten Rotarmisten das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Es war heute, da sprach Marcel Reich-Ranicki, ein 91 Jahre alter, gebürtiger Pole jüdischen Glaubens zum Anlass im Deutschen Bundestag – und er sprach das bessere Deutsch. Es war heute – da sprach der Unnaer Bürgermeister, bevor ein Dutzend Schülerinnen und Schüler im Rathaus sich selbst eine Frage stellten: „Warum, warum gedenken wir?“ Sie, ebenso wie der Bürgermeister, gaben selbst eine Antwort auf die Frage: „Wir gedenken, weil nur so wir die Brücke des Unvergessens aus der Vergangenheit in die Zukunft schlagen können.“

Es war vor knapp 30 Jahren, da lernte ich Herrn Unna aus Hamburg kennen, ein Nachfahr des Professors Unna, dem man sehr wesentlichen Anteil an der Erfindung der Nivea-Creme nachsagt. Herr Unna aus Hamburg war ca. 1,80 Meter groß, trug blondes Haar und blickte mich aus wasserblauen Augen an. „Ja,“ lachte er, „ich war der Vorzeige-Germane in meinem Gymnasium!“ Sein sportlich-gestählter Körper und seine außergewöhnlichen Fähigkeiten beim Kunstturnen ließen den flugs erbraunten Sportlehrer immer wieder vor der gesamten Klasse schwärmen, was doch ein teutscher Junge so zu leisten vermöge. Der junge Herr Unna schmunzelte dann still in sich hinein. Schwieg aber.

Denn ehrlich boshafte Antworten verboten sich für einen klugen Menschen, sie bedeuteten Lebensgefahr. Herr Unna war – wie sein Vorfahr und dessen Vorfahren, die es aus dem westfälischen Unna nach Hamburg verschlug, jüdischen Glaubens. Und er widerlegte durch sein Sein, dass seine vielen Mitleidenden deshalb leiden mussten, weil sie anders waren. Viele waren eben so sehr nicht anders, dass sie sogar als germanische Vorbilder herhalten mussten.

Herr Unna erzählte mir dann vor knapp 30 Jahren, dass der größte Teil seiner Familie in den Todeslagern wie Auschwitz-Birkenau umkam. Er erzählte mir auch, dass er nicht als Lamm zur Schlachtbank gehen wollte, dass er floh, sich zunächst der britischen Armee anschloss, bewaffneten Kampf gegen die Nazis (nicht gegen Deutschland an sich) führte, dass er später der Hagana beitrat und Menschen nach Palästina schmuggelte: „So wie im Film ‚Exodus‘.“ Und dass er vielen Palästinensern Wasser brachte, weil er es verstand, es zu finden und nach ihm zu bohren.
Der Krieg war längst vorüber, da kehrte er nach Deutschland zurück und beobachtete mit wachsender Skepsis das politische Tun in Israel. Er schilderte übles Bauchgrimmen, wenn er an seinen israelischen Landsmann Begin dachte. Fast wie peinlich brummte er: „Faschisten sind überall!“

Ich habe Herrn Unna dann (leider) aus den Augen verloren, ließ mir nicht mehr von seinem Lebens erzählen, aber ich erinnere mich immer wieder an ihn, wenn ich lese oder höre, dass die Juden verfolgt und ermordet wurden, weil sie „anders“ waren. Nein, deshalb wurden sie nicht ermordet. Sie wurden ermordet, weil es keine Massenbewegung gab, die ihnen zu Hilfe kam, weil weggeschaut wurde. Und dass wir heute genau hinschauen, dazu dient das Gedenken an diesem Tag. Nie wieder darf dies stimmen: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ (Paul Celan).

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