Exzess und Geborgenheit – Berlinale-Sieger „Gegen die Wand“ von Fatih Akin

Von Bernd Berke

Wahrlich, das gibt es im deutschen Kino höchst selten: Dass ein Film die raue Wirklichkeit nahezu ungefiltert auf die Leinwand bannt, ja uns geradezu damit anspringt – und noch dazu eine überlebensgroße Liebesgeschichte erzählt. Auch wenn Fatih Akins „Gegen die Wand“ kein zwingender Berlinale-Sieger sein sollte, so ist er doch der Ehren würdig.

Der 40-jährige Cahit (auf barsche Weise einprägsam wie derzeit kaum ein Darsteller in unseren Breiten: Birol Ünel) ist „ganz unten“ in den Gossen des Alkoholismus angelangt. Im Vollrausch pflanzt der Deutsch-Türke seinen rostigen Ford frontal gegen eine Hamburger Betonwand. Offenkundig ein Selbstmordversuch.

„Ich will leben, tanzen, ficken“

In der Klinik setzt ihm das schöne Mädchen Sibel zu (ebenbürtiger Widerpart: Sibel Kekilli, über deren vorherige Pornofilme wir hier kein Wort mehr verlieren, weil’s nichts zur Sache tut). Sibel also hat sich die Pulsadern so gezielt aufgeschlitzt, dass sie nicht inLebensgefahr schwebt, wohl aber ihren sittenstrengen türkischen Eltern entkommt. Sie bedrängt Cahit nun mit sanfter, dann roher Gewalt: Er solle sie gefälligst heiraten. Sie wolle nur ihre Freiheit und werde ihn in Ruhe lassen. Klares Ziel: „Ich will leben, tanzen, ficken.“

Cahit stößt sie anfangs rüde zurück. Wahrscheinlich keimt aber hier schon die Liebe, gegen die beide sich lange wehren. Irgendwann heiraten sie zwar, allerdings nur pro forma. Doch als sie seine versiffte Säufer-Hütte nach und nach mit Leben füllt, lässt sich der Berserker Zug um Zug besänftigen. Ein vages Gefühl von „Zuhause“ beschleicht ihn, obwohl sie fast jede Nacht mit einem anderen schläft und nie mit ihm.

Sibel ist stärker als er, sie zieht ihn aus dem Sumpf, obwohl beide schon mal gemeinsam „koksen“. Exzess und Geborgenheit passen hier wunderlich zusammen. Doch dann begeht Cahit einen Eifersuchts-Mord und kommt in den Knast. Wird Sibel wie versprochen auf ihn warten, oder wird sie andere Wege gehen? In Istanbul trifft man sich Jahre später wieder…

Neben dem furiosen Auf und Ab dieser Liebe gerät die desolate Umgebung ins Visier. An vorwiegend trostlosen Orten skizziert Akin andere Frauen- und Mannsbilder.

Musterstück eines neuen deutsch-türkischen Filmgenres

Da ist die Friseuse Maren (Catrin Striebeck), mit der es Cahit gelegentlich treibt, die sich nicht nur im Bett als rabiate, illusionslose „Punkerin“ geriert; Sibels Cousine Selma hingegen macht eiskalt Karriere im Istanbuler Hotelgewerbe. Zwei herzlose Gestalten, die nicht entfernt an Sibels Vitalität heranreichen. Zudem erleben wir in Cahits Umfeld üble Beispiele türkischen Macho-Verhaltens: Die Frau daheim trage ihr Kopftuch und hege die Kinder, der Mann besucht der weil das Freiwild im Bordell. Eine Liebe, die sich gegen solche Rollenvorgaben behauptet, wiegt doppelt.

Hier haben wir sogleich das schwer zu übertreffende Musterstück eines Filmgenres: Diese Melange aus deutschen und türkischen Tönungen ist bislang einzigartig. Zuweilen wechseln die zwischen beiden Ländern wurzellos gewordenen Figuren das Idiom mitten im Satz. Mentale und seelische Akzente neigen sich im Verlauf der Handlung freilich immer mehr der türkischen Seite zu. So driftet denn das Geschehen auch zusehends von Hamburg nach Istanbul, wo es lauter, bunter, lebendiger, gefährlicher zugeht.

Schon vorher hat die Hansestadt eher wie eine zufällige Metropolen-Staffage gewirkt, Menschen deutscher Abstammung kommen praktisch nicht vor. Man sieht eben eine andere Seite dieses Landes. Fatih Akin beweist hier genaueste Milieukenntnis. Bestürzend authentisch, ohne falschen Zungenschlag, entfaltet sich das wuchtige Drama.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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