Als die Zukunft brodelte – Wuppertaler Ausstellung aus dem Umkreis der russischen „Futuristen“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit grell bemalten Gesichtern und in wallenden Phantasie-Gewändern zogen sie durch Moskau oder St. Petersburg. Manche trugen auch schrille gelbe Brillen zur Schau. Wenn sie sich zu Gruppen vereinten, nannten sie sich beispielsweise „Karo Bube“ oder „Eselsschwanz“.

Etwas verrückte „Szenen“ gab es eben schon lange vor unserer Zeit. Besagte Leute waren russische Künstler, Musiker und Dichter um 1910. Mit dem Furor der Jugend forderten sie, die gesamte bisherige, „von Ratten zerfressene“ Kultur müsse erneuert werden. Ganz und gar der Zukunft zugewandt, verstanden sie sich als „Futuristen“ – ein Wort, das in Italien erst später aufkam.

„Die Russen sind da“, verkündet ein großes Transparent vor dem Eingang. Fast klingt’s wie eine Reminiszenz an Ängste aus dem Kalten Krieg. Doch das Wuppertaler Von der Heydt-Museum zeigt nur einen Querschnitt durch das russische Kunst-Schaffen jener bewegten Zeiten nach 1900. Die 155 Werke von 33 Urhebern, vornehmlich aus St. Petersburg geliehen und in dieser Fülle bei uns noch nie gezeigt, fasern freilich im Verbund mit Gebrauchs- und Textilkunst zu einer verwirrenden stilistischen Vielfalt aus. Das Wort „Futuristen“ dient hier nur noch als notdürftige Klammer und umfasst alle, die damals nach vorn schauten.

Keine Verherrlichung des Krieges

Die Namen der meisten Künstler sind bei uns unbekannt. Selbst in ihrer Heimat, wo Stalin sie in den 30er Jahren drangsalierte, sind sie weithin vergessen. Während Italiens Futuristen um den Manifest-Autor Marinetti sich generell an Dynamik berauschten (sei es in Gestalt von Rennautos, brodelnden Großstädten oder Kriegsgetümmel), begriffen die Kunstler aus den weiten russischen Landen den Krieg nicht als stählernes Reinigungsbad. Natalija Gontscharowa ließ auf einer Lithographie von 1914 gar Engel eingreifen, um bedrohliche Flugzeuge am Himmel aufzuhalten…

Auch priesen die Russen die Metropolen keineswegs als einzig wahre Gär-Stätten der Moderne. Ländliche Motive, allerdings formal aufgefächert oder aufgesplittert, kommen hier häufig vor. Wurzeln in der Volkskunst sind unverkennbar, doch zeitgemäße Impulse aus Expressionismus oder Kubismus ließen eine arglose Weltsicht nicht mehr zu. Auch Bauern und Pferde werden vom Gewitter der Formzertrümmerung erfasst.

Das Neue ersehnen oder vor seiner Gewalt erzittern

Einen gewissen Schwerpunkt der Schau bilden Arbeiten von David Burliuk (1882-1967), der zu Beginn des Jahrhunderts an Ausstellungen beim „Blauen Reiter“ in München beteiligt war. Künstlerische Eigenkraft mag man ihm nur bedingt zusprechen. Beflügelt von allgemeiner Aufbruchstimmung, wirken seine in Werke noch vielversprechend, doch später verlieren sie sich in knatschbunt kolorierter Gefälligkeit. Derlei ästhetische Sinkflüge oder gar Abstürze werden in Wuppertal reichlich, wenn auch summarisch (dicht gehängt) abgehandelt.

Doch es finden sich auch etliche Bilder, die seinerzeit als wild empfunden wurden und heute noch beträchtliche Energie ausstrahlen. Einige der stärksten Beiträge stammen von Frauen: Die erwähnte Gontscharowa hat mit dem rasanten „Radfahrer“ (1913) gar eine der Ikonen der Jahrhundert-Frühe gemalt. Elena Guros „Frau mit Tuch“ (1910) ist in kühner Ausschnittwahl und riskanter Farbgebung eines der originellsten Bilder der gesamten Auswahl. Die kubistischen Formfindungen der Vorjahren in Köln schon eingehend vorgestellten Ljubow Popowa halten jeden Vergleich aus.

Höchst einprägsam ist auch Pavel N. Filonows Großformat „Umwandlung des Menschen“ (1914/15). Es handelt natürlich noch nicht von Gentechnik, wohl aber vom seelisch-körperlichen Elend des Proletariats in den wuchernden Städten. Diese Menschen erzittern geradezu vor ragenden Hochhäusern und überhaupt vor der Gewalt des Neuen. Ein erschütternder Blick auf die Kehrseite der Zukunft.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). 17. September bis 26. November. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 45 DM.

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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