Zutritt in ein Zauberland – Werkschau des 95-jährigen Woldemar Winkler in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Es fällt „Diamantregen über Aschenputtels Goldschuh“, oder man begeht die „Muschelzeremonie unterm Baldachin“. Doch wenn man „Erinnerung in Schweigen vergräbt“, erschrickt man vielleicht vor den „Zerpeitschten Ausgeburten des Fieberreichs“. Die Bilder-Titel des Woldemar Winkler (95) hören sich an wie poetische Parolen für den Einlaß in ein Traum- und Zauberland. Solche Sphären lernt man jetzt im Hammer Gustav-Lübcke-Museum kennen.

Winkler, der aus der Nähe von Dresden stammt und seit 1949 bei Gütersloh lebt, war bereits in den frühen 1920er Jahren künstlerisch tätig – im gedanklichen Sog eines André Breton, der im Surrealistischen Manifest (1924) zum Aufspüren geheimer Entsprechungen zwischen entferntesten Dingen aufrief. Winkler orientierte sich zudem an Paul Klee und Wassilv Kandinsky. Sie forderten, daß die Kunst nicht mehr das Sichtbare zeigen, sondern Verborgenes erst sichtbar machen sollte. So heißt denn auch ein Bild WoldemarWinklers ganz programmatisch: „Halte die Augen geschlossen, wenn Du mehr sehen willst“. Und die ganze Ausstellung bekam folglich den Titel „Begegnung mit dem Unsichtbaren“.

166 Werke aus den Jahren von 1920 bis 1996 sind in Hamm zu sehen. 1924 porträtiert sich der damals 22jährige noch realistisch als proletarischer Typus mit Schiebermütze, der einem Text von Brecht entstiegen zu sein scheint. Collagiert ist dieses Selbstbildnis mit einem eingeklebten Zeitungsausschnitt, der sich mit den Jahrzehnten tief ins Bild eingesogen hat und nun wie gemalt wirkt. Presse-Ausrisse, auch inhaltlich ganz gezielt ausgewählt, hat Winkler oft in seine Werke eingefügt. Ein Mann, der die Zeitläufte beachtet, aber in seiner Kunst weit darüber hinaus gelangt.

Verwandlung der Fundstücke

Woldemar Winkler ist Sammler: Fundstücke aller Art, mal im Rohzustand belassen, mal formbewußt bearbeitet, sind Grundlage seiner Arbeit. Ein Vitrinenschrank in der Ausstellung läßt vage ahnen, wie sehr Winklers Haus damit angefüllt sein muß – mit besonderen Blättern, Wurzeln, Zweigen, Steinen, Muscheln, aber auch Eierkartons, Gliedmaßen von Puppen, Packpapier und tausend anderen Sachen. In Winklers Kunst werden sie zu Zeichen einer ins Übersinnliche driftenden Welt. Da wird der Eierkarton plötzlich zum Tiergesicht und der scheinbar leblose Stein zum mythischen Ur-Zeichen. Figuren, die aus dem Unbewußten aufsteigen. Um solche Wandlungen glaubhaft zu gestalten, muß man wohl auch im Wortsinne „Seher“ sein.

In all den Jahren kein Stilbruch

In der Fläche bändigen lassen sich viele dieser Material-Eruptionen nicht. Also häufen sich Gegenstände und Bemalungen vielfach zu sogenannten Assemblagen (etwa: „An- ‚ Sammlungen“), die in gläsernen Schaukästen dreidimensional dargeboten werden.

Einen heftigen Stilbruch hat es in all den Jahrzehnten eigentlich nie gegeben, nahezu sämtliche Werke atmen gleichen Geist. Doch dieser Zusammenhang wirkt keineswegs eintönig, denn Winkler läßt seine Fundsachen zu immer wieder neuen Formen anwachsen. Ein Grundzug der Winklerschen Phantasien ist übrigens erotischer Natur – nicht von der zotigen Art freilich, sondern im Sinne einer vom heiligen Eros beflügelten Aneignung der vielfältigen Formenwelt. Ein Agavenblatt reckt sich unter dem Titel „Stachelwege der Lust“ in die Höhe.

Lange auf den Erfolg gewartet

Anders als etwa der Hagener Emil Schumacher (84), der im Vergleich zu Winkler eine halbe Generation jünger ist und schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg mit informellen Bildern Erfolg hatte, mußte der Gütersloher lange auf Anerkennung warten. Inzwischen aber gibt es dort eine Winkler-Stiftung, betrieben von der Sparkasse, die auch die Werkschau in Hamm gesponsert hat. Und man muß es als besonderes Ereignis werten, daß der Künstler zur Eröffnung (Sonntag, 11.30 Uhr) erscheinen will.

Woldemar Winkler – „Begegnung mit dem Unsichtbaren“. Gustav Lübcke Museum, Hamm (Neue Bahnhofstraße 9 – Tel. 02381 / 17 57 01). 3. August (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 21. September. Di-So 10-18 Uhr, Mi 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 3 DM. Katalog 30 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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