Die Welt muß noch entdeckt werden: Peter Handkes „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ – eine Expedition auf 1066 Seiten

Von Bernd Berke

Peter Handke ist ein hochtrabender Autor, und dicke Bücher sind stets langweilig. So weit die Vorurteile. Kann denn ein Handke-Buch mit 1066 Seiten spannend sein?

Daß sich in Handkes Riesenroman „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ nicht viel begibt, kann nur behaupten, wer Action-Maßstäbe anlegt. Man fühlt sich alsbald aufgehoben in der strömenden Ruhe des langen Erzähl-Flusses. Passendes und weitgehend eingelöstes Handke-Zitate: .„Obwohl sich nichts tat, ging es hoch her.“ Oder auch: „Was für ein Erlebnis, und wie es einen aufweckt, eine Spannung aus nichts und wieder nichts.“

Ein Vorort als Mittelpunkt

Handkes Ich-Erzähler, der Schriftsteller Gregor Keuschnig, wohnt – nach Trennung von seiner Frau – draußen in einer buchtförmigen Pariser Vorstadt. Straßen und Wälder, Häuser und Menschen, die anderen nichtssagend vorkommen mögen, werden ihm zum aufregenden Mittelpunkt des Lebens. Gerade in diesem Abseits sind seine Sinne geschärfter als im brodelnden Zentrum der Stadt. Hellwach für alle Erscheinungen, schildert er winzigste Beobachtungen aus der Umgegend. Die Welt will bemerkt“ sein. Dann sieht sie plötzlich ganz anders aus.

Entscheidend sind Nachhall und Rhythmus des Erzählens. Entsprechen sie den Vorfällen, dann werden Schreiben und sonstiges Tun womöglich eins, wie Ein- und Ausatmen oder wie das noch ganz beseelte Erzählen eines Kindes. So das vielfach umkreiste Ziel.

Sicher: Beobachtungen in der Vorort-Natur geraten gelegentlich in die Nähe schierer Tier- und Pflanzenidyllen. Doch das hat mit „Gartenlaube“ oder Hermann Löns rein gar nichts zu tun. Denn Handkes grundsätzliche, stets sprungbereite Skepsis („Was ist überhaupt erzählbar?“) setzt die nötigen Brüche und Gegen-Akzente.

Versessen auf Wirklichkeit

Erfindet Handke etwa das Schreiben noch einmal? Er unternimmt jedenfalls dies: Wie weitsichtige Biologen die Gene bedrohter Arten sammeln und für spätere Zeit einlagern, so ähnlich soll Sprache hier die geglückten Momente aufbewahren. Jene Augenblicke, in denen ein ungeahnt schöner Zusammenhang zwischen Menschen, Orten und Zeiten aufblitzt.

Schreiben als Versuch, lohnende Bruchstücke der Weit zu retten. Kein geringes Abenteuer. Wie denn auch die Lektüre dieses Buches, mit dem man bei menschlichem Lesetempo gut vierzehn Tage zu ringen hat, einer Expedition gleichkommt. Wer sagt denn, heißt es einmal, daß die Erde wirklich schon entdeckt ist?

Aus der sorgsam gehüteten, der Außenwelt jedoch zugewandten Distanz seines Vororts, schildert Gregor Keuschnig auch die Reisen und Lebenswege einiger Freunde bzw. er träumt sie einfühlsam-„seherisch“ herbei. So weitet sich der Horizont des denkbar wclthaltigen und auf Wirklichkeit (oder deren wahrhaftige Empfindung) geradezu versessenen Romans.

Deutschland nach dem Bürgerkrieg

Der Reigen der Schauplatze reicht vom deutschen Fußballstadion bis buchstäblich in die innere Mongolei. Jene reisenden Freunde wirken – auf ihren Wegen durch so viele Länder – wie einsame Pioniere einer künftigen Art der Wahrnehmung; jeder auf seine besondere Weise, alle aber als im besten Sinne „Unfertige“.

Es gibt derzeit nur ganz wenige literarische Anstrengungen, in denen so sehr das Dasein aller Welt gewürdigt wird, in denen erst einmal alles Geltung bekommt, ohne daß sich verkrustete Meinungen in den Vordergrund schieben.

Die „Niemandsbucht“ ist nicht nur ein Wander-, Wandlungs- und Bildungsroman in Fortschreibung von Goethes „Wilhelm Meister“-Tradition, sondern auch eine Zukunftsreise. Im Jahr 1997 spiele die Geschichte, heißt es zu Beginn. Deutschland habe soeben einen Bürgerkrieg aller gegen alle überstanden und könne sich nun endlich neu und stimmiger als je zuvor finden. Auch von einer Genesung Jugoslawiens wird geträumt. Verrückte Einfälle? Wortwörtlich genommen, ja. Doch hier sind es Bilder der gespaltenen, vielleicht aber heilbaren Welt.

Peter Handke: „Mein Jahr in der Niemandsbucht“. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main. 1066 Seiten. 78 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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