Moderne Zeiten: Das Lesen wird zum Videospiel – Impressionen auf der Frankfurter Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Ein kleiner Blick ins Lexikon gefällig? Schauen Wir mal unter „V“ wie Vulkan nach. Da steht jede Menge. Welcher Berg wann Lava ausgespien hat usw. Aber das wollen wir jetzt auch vorgeführt bekommen.

Kein Problem. Wir rollen die kleine Computer-Maus so hin und her, daß ein Bildschirm-Pfeil auf das entsprechende Symbol zeigt, machen einmal kurz „Klick“ mit der Taste – und schon sehen wir den tätigen Ätna oder Vesuv. Natürlich unterlegt mit dem entsprechenden Katastrophen-Sound.

So sieht die elektronische Zukunft des Buches ungefähr aus, und sie hat schon begonnen. Demnächst auch bei Ihrem Buchhändler: Auf Disketten oder CDs (CD-Rom) gebannte, nach Belieben multimedial mixbare Informationen (Texte, Bilder, Töne) machen dasLesen zum Grenzfall zwischen Lektüre und Videospiel.

Auf der Frankfurter Buchmesse füllen die 170 Anbieter zwar noch keine komplette Halle, aber immerhin eine weitläufige Etage, die eher an die Computermesse CeBit erinnert. Hier tummeln sich viele Kinder und Jugendliche, die all die schönen neuen Sachen unbefangen ausprobieren.

Mitten im Gewühl liegt ein Forum, in dem Seminare für Buchhändler und Verlagsleute abgehalten werden. Just hier schickt sich eine Yuppie-Fraktion des Buchhandels an, den Kollegen das elektronische Spielzeug schmackhaft zu machen. Die smarten Dozenten reden schnittig von „nice to have“-Produkten (Sachen, die man ganz gern mal hätte), von „Infotainment“ und „Edutainment“ (unterhaltsame Information bzw. Lernen).

Keine Lust zum Buchstabieren

Süffisant werden Techniken des Kundenfangs erläutert: „Wo man die Abspielgeräte kauft, da kauft man auch die Software.“ Diesen Markt dürfe man keinesfalls an Kaufhäuser und Computerhändler verlieren. Man könne zur Einstimmung ja schon mal Software-Abende im Buchgeschäft veranstalten: „Die Kunden zahlen sogar Eintritt dafür.“

Der Buchhandel, so predigen die Zukunftsjünger, solle sich jedenfalls endlich damit abfinden, daß die meisten Leute keine rechte Lust mehr zum altbackenen Lesen haben. Der Kunde wolle spielen, er brauche Animation. Und sie führen auch gleich vor, was sie meinen – selbstverständlich mit einem Elektro-Buch zum Modethema Dinosaurier. „Jetzt laden wir uns einen Brontosaurus“, heißt so was im Computerdeutsch. Und sogleich sieht man das liebe Tierchen, kann man ausgewählte Details „anklicken“. Auch Trickfilme stecken im Programm. Man erlebt z. B., wie ein herzzerreißend brüllender Dino bei der Jagd erlegt wird. Action zählt.

Überhaupt muß man befürchten, daß die neue Technik teilweise beherzt mit trivialen Inhalten gefüttert wird. Sicher, da gibt es sehr nützliche Dinge wie alle möglichen Lexika und Wörterbücher, gefahrlose Chemie-Experimente auf dem Bildschirm, umfangreiche Fußball-Statistiken zum beliebigen Umsortieren, elektronische Kochbücher (in denen man das fertige Menü schon betrachten kann, Karten und Reiseführer in nie gekannter optischer Ausführlichkeit.

Vereinzelt findet man auch schöne Literatur: Shakespeares Gesamtwerk paßt auf eine einzige CD. Don Quixote kommt, Tod der lesenden Phantasie, mit Text und Animation daher. Dabei ist es doch wichtig, sich nur vorzustellen, wie er mit dem Windmühlenflügeln kämpft. Aber solche Reisen durch den eigenen Kopf werden einem hier nicht gestattet. Kulturpessimisten befürchten bereits, demnächst müsse man Goethes „Werther“ beim Selbstmord zugucken…

Etwas, mulmig wird einem schon bei den Kinder-Bildschirmbüchern. Mit sogenannten „interaktiven“ Ausgaben (CD-I) können die Kids gar eine Geschichte nach Gutdünken unterbrechen und nach Wunsch immer wieder anders ablaufen lassen. Haben da die Eltern mit ihren Gutenacht-Geschichten überhaupt noch eine Chance?

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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