Die Kinder der Revolte machen bruchlos weiter – Das legendäre „Living Theatre“ bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. So kann man’s machen: Auf der Hinfahrt zum Theater den Cassettenrecorder oder Walkman mit Musik der 60er Jahre laden. Mit Stones, Doors, Velvet Underground & Co. Dann ist man emotional ungefähr da, wo das „Living Theatre“ noch heute leibt und lebt: mitten in den Jahren der Revolte.

Die Kinder dieser Zeit machen bruchlos weiter, als sei seit jenen 60ern nichts geschehen. Diesen Eindruck, von dem man nicht recht weiß, ob man ihn verheißungsvoll oder befremdlich finden soll, nimmt man aus Recklinghausen mit. Dort tritt die legendäre New Yorker Theatertruppe bei den Ruhrfestspielen auf. Steckbrief: 1951 von Julian Beck (†) und Judith Malina gegründet, in den 60er Jahren d a s freie Theater überhaupt und eine Mutter der Alternativ-Szene. „Paradise Now“ hieß das bekannteste Projekt, der Aufschrei einer Generation.

Das neue Stück „Rules of Civility“ (etwa: Anstandsregeln) entstand durch Zufall. Bei einem Ausflug kam die Gruppe, die bis heute als Kommune zusammenlebt, in ein Nationalmuseum. Man fand dort eine Broschüre über den US-Gründervater George Washington (1732-1799). Der vermeintliche Erz-Demokrat hatte in 110 Regeln dargelegt, wie er sich das rechte Leben vorstellte. Essenz: Immer schön Respekt vor den Höhergestellten haben. Und immer saubere Fingernägel vorzeigen.

Sonnenklar, daß ein solches Korsett den Nachfahren von ’68 mißfällt. Das „Living Theatre“ zeigt nun, mit recht simplen darstellerischen Mitteln, wie solche Regeln, wenn sie von Menschen gegen Menschen durchgesetzt werden, direkt den menschlichen Körper betreffen, ihn gewaltsam einschnüren, zurichten, zurechtbiegen.

Sie sind so naiv und so schrecklich sympathisch

Die Darsteller schwärmen auch, nach ihrer Gewohnheit, ins Publikum aus und rufen damit Angstlust im Parkett hervor. Alle 110 Paragraphen werden in der englischsprachigen Aufführung zitiert und musikalisch unterlegt, der Präsidenten-Patriarch betritt als Doppel-Figur (Erwachsener und Kind) die Bühne. Hauptrequisit ist eine Ananas, die als Zeichen für Kolonialismus herhält.

Es wäre leicht, sich ironisch über die Sache herzumachen, so naiv bezieht das „Living Theatre“ George Washington auf die Gegenwart. Dessen Regeln, so ruft man uns inbrünstig von der Bühne aus zu, seien Regeln des Krieges — aus ihnen ableitbar sei Amerikas fatale Weltpolizistenrolle. Und alles, was sie uns gezeigt haben, sagen sie auch noch viele Male: All‘ diese Regeln müsse man brechen, dann werde die Welt besser.

Schön war’s ja: Wir alle benehmen uns spontan — und alsbald herrscht Frieden. Man möchte dem „Living Theatre“ seine Botschaft gerne glauben. Die Truppe ist so mit sich im Reinen, geradeaus und ehrlich. Sie sind gewiß nicht die besten Schauspieler, aber sie sind schrecklich sympathisch.

Im Grunde vollführt man ein Schattenboxen gegen Washington. Seine strikten Benimmregeln sind eh längst außer Kraft. Ja, vielleicht brauchen wir gar das Gegenteil: Mehr statt weniger Form im Zusammenleben. Wenn auch nicht im stocksteifen Sinne Knigges oder Washingtons.

Aber der Schluß ist stark: Da ziehen die Leute von „Living Theatre“ in einer Lichterprozession mit dem Publikum ins Freie – zur stillen Meditation. Rund ums „Depot“ hört man nun Vogelstimmen in der Abenddämmerung. Wer weiß: Vielleicht wird doch noch alles, alles gut…

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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