Es kommen weder bessere noch schlechtere Zeiten – Botho Strauß und seine „Beginnlosigkeit“

Von Bernd Berke

Es dürfte das Buch mit den erlesensten Fußnoten der Saison sein – derart entlegene Werke zitiert Botho Strauß. Und bei manchen seiner Fremdworte helfen nur Spezialhandbücher. Aber sind das schon Qualitäten, Zeichen eines „Sehertums“ gar?

Strauß hat neueste naturwissenschaftliche und kosmologische Forschungen zur Kenntnis genommen – und will, daß daraus Konsequenzen für Literatur und Leben gezogen werden. Sein Befund: Die Zeit der Dialektik (jenes diskussionsfördernden Dreischritts aus These, Gegenthese und vorläufiger „Versöhnung“) sei vorbei. Vorbei auch die Ära des Fortschritts, der Logik, der Ideologien und des „Prinzips Hoffnung“ eines Ernst Bloch (den Strauß ohne Namensnennung als „Roßtäuscher“ bezeichnet).

Immer schon da und ewig verweilend

Was haben wir statt dessen? Den „Steady state“ (letztlich gleichbleibender Zustand), den Strauß aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen herleitet und den er so skizziert: „Nichts beginnt, alles schwebt und weilt.“ Daraus folgt für ihn ungefâhr dies: Paradies wie Hölle sind immer schon dagewesen und bleiben ewig, es kommen weder bessere noch schlechtere Zeiten. Auch gibt es niemals eindeutige Gründe und Folgen, daher ist das Leben kein Fortschreiten, sondern ein stetes Auf und Ab, ein allseits zerstreutes Hin und Her, dessen Unübersichtlichkeit man gelten lassen und nicht durch „Begradigung“ aussichtslos bekämpfen muß. Also: formloser Fleck statt gerader Linie (daher der Untertitel des Buches).

Weltanschauliche Kraftakte?

Gleichwohl, so Strauß, bedürfe die formlose Natur hin und wieder auch der Zähmung durch „Linien“ – und es könne ja in einem künftigen, allgegenwärtigen Reich neuester Techniken auch Engelhaftes verborgen sein…

Strauß‘ Formulierungen sind – wie von ihm nicht anders zu erwarten – stets hochveredelt. Auch sind seine Thesen diskussionswürdig. Aber er scheint zu wollen, daß man sie hinnimmt. Gelegentlich jedenfalls verfallt er in den Ton eines „Gesetzgebers“ à la Friedrich Nietzsche. Möglich, daß man da noch einmal Botho Strauß‘ großartiges Buch „Paare Passanten“ von 1981 zur Hand nimmt, als er Ernst Blochs zeitweiligen Mitstreiter Theodor W. Adorno noch als „prunkenden Denker“ hervorhob. Möglich auch, daß man sich fragt, ob Strauß aus den außerordentlich hellsichtigen Beobachtungen bundesdeutschen Alltags nun in weltanschauliche Kraftakte geflüchtet ist.

Botho Strauß: „Beginnlosigkeit – Reflexionen über Fleck und Linie“. Hanser Verlag, München. 134 Seiten, 28 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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