Finsteres Fazit: Cees Nootebooms „Abschied. Gedicht aus der Zeit des Virus“

Als Journalist und Lyriker, Romancier und notorisch Reisender ist Cees Nooteboom ständig unterwegs, beobachtet, beschreibt, erfindet sich und die Welt neu. In Venedig sucht er Schönheit und Vergänglichkeit, in Berlin ist er dabei, wenn die Mauer gebaut wird und wenn sie wieder fällt. Das verlorene Paradies findet er mal gleich nebenan, mal auf den Traumpfaden der Aborigines in Australien. „Abschied“ heißt das neue Buch des inzwischen 87-jährigen Autors. Der Untertitel lautet „Gedicht aus der Zeit des Virus“.

Doch Nooteboom macht sich keinen Reim auf die Pandemie, sie ist nur als Bedrohung im Hintergrund wahrnehmbar: eine Metapher für das Verschwinden und Vergehen, das ihn als Mensch und Autor erwartet. Ein Gedicht über das Leben und den Tod. Das Virus war noch nicht in der Welt, als Nooteboom auf Menorca damit beginnt, sein „Abschieds“-Gedicht zu schreiben, sich auf Zeitreise durch sein Leben begibt, mit vorsokratischen Texten von Empedokles spielt.

Dann bricht die Pandemie aus, er reist nach München, wo er sich einer Operation unterziehen muss und – kaum aus der Narkose erwacht – die leergefegten Straßen und Masken tragenden Menschen sieht und überall eine große Angst und Verwirrung spürt. Er fährt nach Holland, will am „Abschieds“-Zyklus weiterschreiben, doch die Notizen liegen unerreichbar auf Menorca, dazu die Pandemie, die alles ins Wanken bringt, neue Bilder und Gedanken hervorruft, seine Verse in eine ganz andere Richtung lenkt, bis er sich und uns fragt: „Das Ende vom Ende, was könnte das sein?“

„…und werde dann langsam / niemand.“

Nooteboom wählt für seine melancholischen Reflexionen über das Ende der Zeit und den Abschied vom Leben eine von Visionen und Fantasien, Andeutungen und Erinnerungen durchsetzte Sprache, die man nur schwer dechiffrieren kann. Das Langgedicht hat eine strenge, klassische Form: drei Teile, jedes Kapitel besteht aus 11 kleinen Gedichten, die auf drei Vierzeilern und einem kurzen Vers basieren und mit der nicht eben heiteren Erkenntnis schließen: „Jetzt ist Stille / der Rest der Strecke, / ohne Erinnerung / kein Leben. // Ich höre meine Schritte / nicht länger, / was mich umringt, / ist verborgen. // Blind lauf ich weiter, ein fahler Hund / in der Kälte. Hier muss es sein, / hier nehme ich Abschied von mir selbst / und werde dann langsam / niemand.“

Die beigefügten Zeichnungen von Max Neumann zeigen Gesichter mit aufgerissen Augen und zerfaserten Mündern, mit nervösen Strichen angedeutete Menschen, archaisch-zeitlose Kreaturen aus traumloser Zeit. Sie tragen schweres Gepäck und stapfen durch eine schwarz befleckte Welt, rufen nach Erkenntnis und Erlösung. Wie die verstörenden Zeichnungen künden auch Nootebooms Verse von „dunklen Wolken“ und vom „Krieg“, der die Erinnerungen auffrisst, von „Einsamkeit“ und „Leere“, vom „Verschwinden der Worte“ und der „Kloake der Evolution“, vom „Palaver der Welt“ und den „verkauften Visionen“, von „Verrat“ und „Verstümmelung“, von der „Vertreibung aus dem Paradies“ und vom „Trugbild“, das sich Leben nennt und sich manchmal ausdrückt in einem geglückten Gedicht.

Das Leben ist oft kaum zu ertragen, der Dichter ist nicht besser als alle anderen, ein erbärmliches Wesen, ein erfundenes „Genie, das seine Kotze verkauft / und die Seele dazu.“ Ein fürchterliches Fazit, ein endgültiger Abschied. Man kann sich kaum vorstellen, dass Nooteboom noch ein weiteres Buch schreiben könnte.

Cees Nooteboom: „Abschied. Gedicht aus der Zeit des Virus“. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Niederländischen von Ard Posthuma. Mit Bildern von Max Neumann. Suhrkamp, Berlin 2021, 88 S., 22 Euro.

 

 

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