Von Bernd Berke
Wuppertal. „Szenen aus der Tiefe“ lautet der Untertitel von Maxim Gorkis Elends-Drama „Nachtasyl“. In Helmut Palitschs Wuppertaler Inszenierung (zeitnahe Übersetzung von Thomas Brasch) wird diese Frühform von „Ganz unten“ wirklich ins Kellergeschoß verlegt.
Die „alte Küche“ unter der Stadthalle am Elberfelder Johannisberg, erstmals als Spielstätte genutzt, ist ein öder, verkommener Raum, rundum mit Kacheln ausgekleidet und wie geschaffen, eine trostlose letzte Zuflucht der Ausgestoßenen darzustellen. Dieser Spielort erspart das Bühnenbild, er ist aussagekräftig genug. Wenige Requisiten, etwa Bierflaschen und Zigarettenkippen, die am Schluß den Boden übersäten, reichen aus. Die Entscheidung für diese Spielstätte ist richtig. Man sollte „Nachtasyl“ nicht im schmucken Schauspielhaus vor gepolsterten Sesseln spielen. Auch daß hier ohne Pause gespielt wird, hat seinen Sinn. Snacks, Sekt und Smalltalk wären fehl am Platze.
Noch eine sinnvolle Entscheidung: Die Inszenierung zeigt das Elend nicht naturalistisch ausgekleidet vor, sie legt es nicht darauf an, beim Zuschauer wohlfeiles Mitleid hervorzurufen, in dem er sich womöglich sogar sonnen könnte. Mindestens so sehr wie um die materielle Verelendung geht es hier um psychische Defekte. Damit liegt Palitsch auf der Linie wichtiger „Nachtasyl“-Inszenierungen der letzten Jahre.
Reste der Arbeitsgesellschaft (im Stück werkelt ein Schlosser vor sich hin) sind getilgt. Die Figur des Kürschners fehlt ganz, der Schlosser (Günter Delarue) putzt – für eine Zukunft, die nie kommen wird – nur noch seine Werkzeuge und trägt sie sinnlos hin und her. Herausgehoben wird denn auch Satins „Tunix“-Utopie, die Vorstellung, alle würden aufhören zu arbeiten.
Überhaupt spielt der Umgang mit Utopien hier eine wichtige Rolle: Betrug und Selbstbetrug sind die – freilich arg beschädigten – Anzeichen einer Vorstellungskraft, die hinaus will. Zugleich hat der laxe Umgang mit der bitteren Wahrheit handfeste Funktion: er sichert das Überleben. Wer aus Lüge und Traum erwacht, ist schon verloren.
Das Handlungsgewoge, in dem mal die Illusionen, mal die unerbittlichen Einsichten die Oberhand gewinnen, wird schauspielerisch auf unterschiedlichem Niveau dargestellt. Manche Szenen (Mord am Nachtasyl-Besitzer) würde ich mir stärker stilisiert wünschen. Zum Glück werden schwächere Leistungen durch Ensemble-Spiel „aufgefangen“. Positiv fallen Wolfgang Packhäuser als Satin und Jochen Fahr in der kleinen Nebenrolle des „Aljoschka“ auf.
Asylherr Kostylew (Herbert Ecker) ist hier nicht ein Vollblut-Ekel, sondern ein schmalbrüstiger Hausmeister; der Pilger „Luke“ (Bernd Kuschmann) wirkt nicht wie ein weiser Greis, sondern wie eine Mischung aus Sozialarbeiter und Aasgeier des Elends, der das Unglück der anderen braucht und immer ein paar humane Sprüche parat hat.
Eindrucksvoll das eher komödiantisch angelegte Paar „Baron“ (Gerhard König) und „Satin“, das von Beckett oder O’Casey stammen könnte. Nur: Die langen und tiefsinnigen Reden am Schluß („Der Mensch ist die Wahrheit“) nimmt man „Satin“ dann nicht leicht ab. Hier hätte man mehr straffen sollen.