Geisterbahn preußischer Geschichte – Heiner Müllers „Leben Gundlings…“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Das Licht im Zuschauerraum ist noch nicht verloschen, da staksen auf der Bühne schon zwei laszive Krankenschwestern herum. Stehen die Handelnden der folgenden Szenen allesamt unter Kuratel, sind sie Insassen eines verrückten Hospitals? Wohl möglich!

Heiner Müllers „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“ ist ja eine drastisch-haßgesättigte Psychopathologie des Preußentums, seines Machtgebarens und seiner ohnmächtigen Intellektuellen.

Anfangs ist „Friedrich der Große“ noch klein und trägt kurze Hosen. Die Szenen, in denen sein Vater, Friedrich Wilhelm, dem Knaben jegliche Lust aus- und eiskalte Gewalt eintreibt, könnte man sich als bitterböse Komödie im täuschend leichten Konversationston denken; doch in Wuppertal, wo Hans Peter Cloos das Stück inszeniert hat, befinden wir uns gleich wieder mitten in der Endzeit. Sofort beginnt der (doch etwas nervzehrende) Minimalmusik-Teppich mit „Apokalypse“-Klängen; wie aus einem Volksempfänger ertönt kriegslüsternes Gekrächze, ein Alarmton schnarrt, als sei jetzt die atomare Katastrophe ausgebrochen.

Fortan steht alles „unter Verdacht“: Die Fässer auf der von Jean Haas gestalteten Bühne – sicherlich enthalten sie Gift oder Atommüll; die Kisten – bestimmt ist Munition darin. Ein in die Szenerie gestürztes Flugzeugheck entspricht solchen Ahnungen.

Zu ihren schrecklichen „preußischen Spielen“ erheben sich die Figuren aus dem dumpfen Schlaf der Historie. Wie Zombies bewegen sie sich, ihre Totschlag-Sätze kommen hart und fremd via Mikrophon und Lautsprecher. Später scheinen sie aus allen Ritzen hereinzudrängen. Türen und Durchgänge öffnen sich wie von Geisterhand und geben den Blick frei auf Schreckensszenen vor einer Zerrspiegelwand: Eine Geisterbahn voller Geschichts-Müll, sprich unerledigter Historie. Und dann ist in der Bühnenlandschaft noch jener Durchbruch nach oben, der für ein bedrohliches Aufsteigen dieser Geschichtsreste in die Gegenwart stehen könnte.

Regisseur Cloos ist in Frankreich inzwischen bekannter als bei uns. Vielleicht hat er in Paris auch Varieté schätzen gelernt. Häufig gibt es im „Gundling“ revuehafte Einschübe, Tänze gefrorener Erotik. Ein scharfkantiger, aber wohl bewußt eingesetzter Stilbruch auch, wenn da plötzlich Rockmusik ertönt.

Ein schwieriges Stück in einer oft chaotisch-bildversessenen, „unübersichtlichen“ Inszenierung – das war in Wuppertal, wo man bisher vom Theater kaum auf Heiner Müller eingestimmt war, nicht jedermanns Sache. Dutzende flüchteten, als die Figur „Heinrich von Kleist“ als Transvestit auftrat. Dabei hatte Cloos, ansonsten recht texttreu, diese Stelle eher noch entschärft.

Die Darsteller – die meisten absolvierten mehrere Rollen – agierten ansehnlich. Eike Gercken als kindlicher und erwachsener „Friedrich“ (eine Frau als König – warum eigentlich?) hatte den gichtgeplagten Gang des „Alten Fritz“ perfekt eingeübt und verlieh auch der gealterten Figur einen Stich ins Infantile. Horst Fassel (Friedrich Wilhelm/Irrenarzt/Lessing) fand zur passenden, schneidenden Bösartigkeit. Eine Verstärkung für das Wuppertaler Ensemble: Karin Neuhäuser. Ihr Auftritt im „Irrenhaus“ mit dem Mörderinnenlied war die bewegendste Szene des Abends.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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