Woran die geliebte Freundin zerbrochen ist – Roman „Die Unzertrennlichen“ aus dem Nachlass von Simone de Beauvoir

Jean-Paul Sartre fand diesen Text seiner Gefährtin Simone de Beauvoir „zu intim“ für eine Veröffentlichung. Wer weiß, was ihn zu diesem Urteil bewogen hat. Jedenfalls schildert die Beauvoir in „Die Unzertrennlichen“ (Original: „Les inséparables“) ihre erste Liebe – zu einer Schulfreundin, die sie mit neun Jahren kennenlernte und die am 25. November 1929 mit nur 21 Jahren jämmerlich gestorben ist – offiziell an viraler Enzephalitis. Nach Erlaubnis der Adoptivtochter Sylvie Le Bon de Beauvoir kam das Manuskript aus dem Nachlass erst 2020 heraus und ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Cover des besprochenen Buches: Freundinnen „Zaza“ (links) und Simone des Beauvoir im Jahr 1928. (© Rowohlt Verlag, Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München – Fotografie: Éditions de L’Herne)

Diese Élisabeth Lacoin, genannt „Zaza“ (im Buch: Andrée) muss schon als Kind ein ausgemachter Freigeist gewesen sein, sehr klar und bestimmt in ihren spontanen Äußerungen. Einerseits scherte sie sich nicht darum, was „die Leute“ (wie Lehrer und Mitschülerinnen) dachten. Doch sie war und blieb eingeschnürt in ein großfamiliäres, erzkatholisches Korsett, aus dem sie sich in jenen starren Zeiten dann doch nicht befreien konnte. An diesem Widerspruch, so könnte, ja müsste eine plausible Lesart lauten, ist sie zerbrochen und schließlich zugrunde gegangen. Weitet sich der Blick übers Individuelle hinaus, so dürfte es sich hierbei um einen – leider arg verspätet vorliegenden – Gründungstext der neueren feministischen Bewegung handeln, in dem Motive anklingen, die Beauvoirs Oeuvre prägen. Immerhin sind ein paar Einzelheiten in ihre „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ eingeflossen.

Simone de Beauvoir (im Buch: Sylvie) hat Zaza auf den ersten Blick bewundert. Mit der Zeit wurde ihr bewusst, dass es wohl nicht nur die übliche Mädchenfreundschaft, sondern eine besondere Art von Liebe sein musste. Inwieweit irgendwann auch sexuelles Begehren hineingespielt hat, wird nicht erwähnt oder erwogen. Ohne Zaza konnte sich Simone ihr Leben jedenfalls nicht mehr vorstellen. Doch die schien über derlei „Gefühlsduseleien“ lange Zeit erhaben zu sein. Schlimmer noch: Als Zaza sich mit 15 Jahren in einen Jungen namens Bernard verliebt (hoffnungslos, weil ihre strenge Mutter den Kontakt unterbindet), ist Simone zutiefst enttäuscht, zeigt sich aber gleichwohl großmütig bereit, der Freundin in seelischer Not zu helfen. Jahrzehnte später hätte man einen solchen Stoff bis hierhin vielleicht als „Coming of Age“-Erzählung bezeichnet. Aber egal. Derlei Zuordnungen führen nicht weit.

Es stellt sich dann auch die „Frauenfrage“

Das zweite Hauptkapitel setzt nach bestandener schulischer Reifeprüfung ein. Zaza trifft Simones philosophisch beschlagenen, doch recht verschrobenen Studienfreund Pascal Blondel (im wahren Leben: Maurice Merleau-Ponty) und scheint an seiner zuversichtlichen Wesensart zu gesunden, woraus sich – wie es so gehen kann – Liebe entfaltet. Simone verspürt nun keine Eifersucht mehr, die Freundin bedeutet ihr nicht mehr alles. Doch immer noch sehr viel. Jener Pascal will seinem alten verwitweten Vater kein weiteres Einsamkeits-Leid bereiten und lehnt vorerst eine Verlobung mit Zaza ab, die eine Perspektive eröffnet hätte. Doch nun soll Zaza nach dem Willen ihrer Eltern für zwei Jahre ins edle englische Cambridge gehen. Zur Probe ihrer Gefühle. In Wartestellung. Vielleicht zur „Abkühlung“. Eine so lange Trennung von Pascal, das will und kann sie nicht aushalten… Als alle Hoffnung schwindet, befällt ein wahnhaftes Fieber Zaza. Ihr ist auf Erden nicht mehr zu helfen.

Nicht nur die genannten „Hauptpersonen“ spielen eine Rolle, skizzenhaft kommen auch andere Frauenleben in den Blick: beispielsweise Zazas ältere Schwester, die partout schnellstens verheiratet werden soll, und zwar mit einem Mann nach Wahl der Eltern; sodann just auch Zazas Mutter und Großmutter. All die gesellschaftlichen Zwänge und Unfreiheiten haben sich ja über Generationen hinweg fortgesetzt. Da stellt sich eben die generelle „Frauenfrage“.

Bedauerlich, dass uns dieser „autofiktionale“ Roman avant la lettre bislang vorenthalten geblieben ist. So überaus lebendig, dialogisch markant aufbereitet, schildert Simone de Beauvoir die betrüblichen Geschehnisse, dass man vor dem inneren Auge gleichsam einen jener französischen (Liebes)-Filme mit tragischem Ausgang ablaufen sieht; wie denn überhaupt dieser Stoff nach kongenialer Verfilmung ruft. An solchen Eindrücken hat sicherlich auch die Übersetzung ihren Anteil.

Die Beauvoir muss in der fraglichen Zeit (1916 bis 1929) ausgiebig Tagebuch geführt haben, so detailreich sind ihre im Roman dargelegten Erinnerungen gefasst. Zweifellos handelt es sich um das Werk einer famosen Schriftstellerin. Da fragt sich abermals, warum Sartre (den Beauvoir im Juli 1929 kennenlernte) von einer Publikation abgeraten hat. Sollten etwa seine höchstpersönlichen Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten…?

Simone de Beauvoir: „Die Unzertrennlichen“. Roman. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Mit einem Vorwort von Sylvie Le Bon de Beauvoir sowie einem Anhang mit Schwarzweiß-Fotografien und ausgewählten Briefen. Rowohlt Verlag, 144 Seiten (plus nicht paginierter Anhang), 22 Euro.

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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