Diffuses Figuren-Inventar – Shakespeares „Maß für Maß“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Den Angelo würde man heute wohl einen „Zombie“ nennen. Blutleer, Grau in Grau gekleidet, betritt er die Bühne, ein Abgestorbener mit abgetöteten Gefühlen. Ausgerechnet ihm überträgt Herzog Vincentio die Gewalt im Staate. Angelo, selbst nicht ohne Fehl, nutzt das weidlich, bis an und über die Grenzen der Diktatur.

Die Ausgangssituation von „Maß für Maß“, die als Shakepeares tiefgründigste Komödie gilt und dieser Gattung über weite Strecken gar nicht mehr angehört, gibt einiges her für die Gegenwart. Das Stück hatte jetzt in der Inszenierung Jörn van Dycks in Wuppertal Premiere.

Geradezu idealtypisch lassen sich anhand des 1603 uraufgeführten Stücks Mißbrauch von Macht und Überdehnung des Rechts im Namen lebensferner Prinzipien darstellen. Daß das Drama darüber hinaus in der Spielform der Verkleidung und des Auftretens von Personen unter falschem Namen auch die Identitätsfrage aufwirft, kann eine Aufführung um so spannender machen. Verkleidung fungiert hier als Enthüllung und ermöglicht einen versöhnlichen Komödienschluß nach tragischem Geschehen.

In Wuppertal versucht man, die Textvorlage auf die Machtausübung aller Zeiten zu beziehen. Als Büttel tritt Elbogen (Adalbert Stamborski) mit preußischer Pickelhaube auf und berlinert drauflos. Gleichzeitig stehen zukunftsträchtig kostümierte Polizeikräfte auf der Bühne, die einem Entwurf für Orwells „1984″ entstammen könnten. Die von ihnen drangsalierte, halbseiden-lüsterne Unterwelt besteht – schließlich spielt „Maß für Maß“ in „Vienna“ – aus Wiener Strizzis und Huren, die wiederum Erinnerungen an Schnitzler und Molnár wachrufen.

Vielfalt oder Durcheinander? Fusion der Epochen oder Konfusion? Zumindest erweist es sich als schwierig, ein solch diffuses Figureninventar zusammenzuhalten. Bündigkeit und Klarheit geraten dabei in Gefahr. Einleuchtender schon die Darstellung des Angelo (Peter Hommen), der hier mit seiner Gestik tatsächlich ein epochenübergreifendes Bild dessen skizziert, der seinen Trieb niedergekämpft bzw. zur Waffe umgeformt hat, um über andere zu herrschen.

Im zurückhaltend und sinnvoll konzipierten Bühnenbild Raimond Schoops – eine Art zweistöckige runde Kanzel dient unter anderem als Tresen und Gerichtsort – agieren die anderen Darsteller, wenn auch selten mitreißend, so doch durchweg solide. Es gibt keine „Ausfälle“. Hervorzuheben vielleicht Franz Trager als Herzog Vincentio und Michael Wittenborn als schwatzhafter Lucio.

Den Höreindruck vorsichtig interpretierend, kann man den Premierenbeifall eher als verhalten denn als enthusiastisch bezeichnen.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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