Von Unna bis Bangkok – Unbewohnbarkeit der Städte im fotografischen Langzeitprojekt

Der 1961 in Wolfsburg geborene Fotograf Peter Bialobrzeski ist ein kreativer Unruhegeist. Wenn der Foto-Künstler keine Uni-Seminare hält, ist er mit seiner Kamera unterwegs, erforscht die Geheimnisse der deutschen Kleinstädte und die Abgründe der globalen Mega-Metropolen. Seine Arbeiten werden weltweit ausgestellt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Seit einiger Zeit widmet er sich einem Langzeitprojekt: Die Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Thema seiner „City Diaries“, mit denen er der Frage nachgeht, ob unsere Vorstellung vom Bild einer Stadt, gespeist aus Vorurteilen, Vorgefundenem und medial Vermitteltem, in ein spezifisches Bild überführt werden kann. Die Bibliothek der „City Diaries“ umfasst inzwischen 19 Bücher.

Die Reiseroute seiner Foto-Safaris scheint keinem Muster zu folgen, ein Auswahl-Prinzip ist nicht erkennbar. Manche Stadterkundung mag im Zusammenhang mit Einladungen zu Vorträgen und Ausstellungen entstanden sein. Wissen will er, wie sich die Globalisierung auf die Architektur der Stadt auswirkt und kulturelle Unterschiede eingeebnet werden, wie Menschen ihre Stadt bewohnen und sie sich aneignen.

Unschärfen vor grauem Himmel

Bialobrzeski war in Kairo und Athen, Taipeh und Beirut, Wuhan und Osaka, Dhaka und Yangon, Minsk und Belfast. Für seine jüngsten „City Diaries“ hat es ihn von der deutschen Provinz bis ins ferne Asien verschlagen – von Unna über Sarajevo bis nach George Town und Bangkok. Er kennt keinen kulturellen Dünkel und keine Berührungsängste, das Kleine ist ihm genauso wichtig wie das Große, das Detail genauso lieb wie das Gesamtbild. Sein fotografisches Erkenntnis-Interesse ist im besten Sinne egalitär und demokratisch.

Format (14 x 21 Zentimeter) und Umfang (96 Seiten) aller Bände sind identisch und unterliegen einer strengen Systematik. Die Fotos scheinen auch immer auf dieselbe Art und Weise nachbearbeitet zu sein. Immer ist der Himmel leer und grau, immer scheinen die Städte von einer feinen Staubschicht bedeckt uu sein, immer werden die Fotos mit langer Belichtungszeit geschossen oder mehrere ähnliche Fotos ineinander montiert, so dass alles, was sich bewegt, egal ob Mensch oder Auto, etwas Verwischtes und Unscharfes, etwas Nicht-Fassbares bekommen.

Scheußliches Durcheinander

Der Fotograf logiert in einem Hotel mitten in der Stadt und erweitert von Tag zu Tag seinen Radius, bis er in die angrenzenden Vororte und an die ausufernden Ränder vordringt. Er fotografiert nie die touristischen Highlights, ein bekanntes Rathaus, ein wichtiges Museum, eine kulturelle oder architektonische Besonderheit, die jeder mit der Stadt in Verbindung bringen würde. Sein Interesse zielt auf das alltägliche Getriebe und Gewusel: Er beobachtet, wie sich Menschen durch das von jeder Idee und jedem Sinn befreite Chaos der städtischen Infrastruktur bewegen; wie sie achtlos an Bauwerken vorbei hetzen, die scheußlicher kaum sein könnten; wie sie das Durcheinander von alten Bauten und neuen Läden, von grellen Werbeplakaten und bunten Straßenschildern ausblenden; wie sie die überall sichtbare Verwahrlosung des öffentlichen Raumes vollkommen gleichgültig ertragen. Wie sie es irgendwie schaffen, ihren Alltag zu meistern, zu leben zwischen glitzernden Hochhausfassaden und verdreckten Hinterhöfen, schicken Einkaufszentren und ihren von Autobahnen brutal durchschnittenen Wohnvierteln. Und wie sie sich kleine Oasen des Friedens schaffen und dem größten Lärm mit ein paar grünen Pflanzen und weißen Plastikstühlen trotzen, die überall auf der Welt gleich aussehen, auf denen man aber ausruhen und miteinander ins Gespräch kommen kann.

Kultureller Kahlschlag als globales Phänomen

Am Beginn eines jeden Fotobandes stehen ein paar allgemeine Notizen. Die Fotos selbst werden nicht beschrieben oder kommentiert, sie einzuordnen und zu verstehen ist allein die Aufgabe des Betrachters. Im „Bangkok Diary“ notiert der Fotograf: „Die Stadt hat sich dramatisch verändert. Sie verwandelt sich in ein anderes Singapur mit Skywalks, klimatisierten Einkaufszentren und Kaffeeständen im westlichen Stil. Es ist jetzt einfacher, in den Straßen der Hauptstadt von Siam einen Vanille-Latte zu kaufen als ein Pad Thai.“

Bei seinem Aufenthalt in George Town beschreibt er kopfschüttelnd, welch fatale Wirkungen gut gemeinte Hilfe haben kann, wenn eine Stadt zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt wird: „Aufgrund des Privilegs hat das alte George Town jetzt einen ständigen Strom an Touristen, die Cafés im westlichen Stil suchen, die dort Cappuccino, Kuchen und Bagels anbieten. Ich finde es immer wieder seltsam, dass Menschen Tausende von Flugmeilen zurücklegen und dabei tonnenweise CO2 ausstoßen, um dann in Kneipen zu landen, von denen sie zu Hause genug haben.“ Er hat keine Illusionen über die Dominanz des kapitalistischen Konsums und des kulturellen Kahlschlag der Globalisierung.

Rätselhaft, wie Menschen das ertragen können

Irritierend: die Normalität der Verwahrlosung und Verwüstung, die Gleichgültigkeit der Menschen und die Unbewohnbarkeit vieler Stadt-Areale. Sarajevo: eine bizarre Mischung aus Beton-Brutalismus der siebziger/achtziger Jahre und verspieltem Backsteindekor, auch gibt es Ruinen und Grabfelder aus dem Bürgerkrieg direkt neben modernen Glaspalästen und farbenfrohen Werbeflächen, Kirchen und Moscheen direkt neben Fitnessstudios und Wettbüros. Bangkok: ein labyrinthisches Gewirr aus Kabeln und Leitungen, die über den Köpfen der Menschen schweben, an dürren Masten hängen und sich wie dünne Lebensadern durch die ganze Stadt ziehen. George Town: eine groteske Melange aus asiatischen und europäisch-amerikanische Elementen, Pagoden-Bauten neben Kolonial-Villen, chinesischen Schriftzeichen neben Werbung für Nescafé. Unna im Corona-Lockdown: ein optischer Alptraum, eine menschenleere Einöde, ein ideenloses architektonisches Nichts aus alten Fachwerkhäusern und grauem Beton. Rätselhaft, wie Menschen das ertragen und aushalten können.

Im Herbst 2023 werden vier neue Bände der „City Diaries“ erscheinen. Bialobrzeski entführt uns dann nach London und Turin, Vilnius und Wilson (North Carolina), beobachtet und fotografiert wieder auf seine Weise vom Zentrum zur Peripherie ausschreitend und präsentiert seine Ansichten und Einsichten wieder im gleichen Format und Umfang: Was richtig und wichtig ist, sollte man nicht ändern.

Peter Bialobrzeski: „City Diaries“ (Langzeitprojekt, bisher 19 Bände). Neu bei Hartmann Books erschienen: „George Town“, „Unna“, „Sarajevo“, „Bangkok“. Jeder Band hat 96 Seiten und kostet 22 Euro.

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 8 times, 1 visit(s) today
Dieser Beitrag wurde unter Alltag, Architektur & Städtebau, Fotografie, Weite Welt abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert