Viel Stoff fürs Phantastische: Benjamin Brittens „Midsummer Night’s Dream“ in Gelsenkirchen

Puck (Klaus Brantzen, l.) bestreut Lysander (Cornel Frey) mit dem Pollen der Zauberblume. Hermia (Anke Sieloff) ahnt nichts Böses. (Foto: Monika Forster/MiR)

Puck (Klaus Brantzen, l.) bestreut Lysander (Cornel Frey) mit dem Pollen der Zauberblume. Hermia (Anke Sieloff) ahnt nichts Böses. (Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

484 Quadratmeter. Zweiundzwanzig mal zweiundzwanzig Meter. So groß ist das weiße Laken, das sich, einem überdimensionierten Betttuch gleich, aus dem Schnürboden des Gelsenkirchener Musiktheaters hinabsenkt auf die Bühne. Von den Elfen und Menschen aus Benjamin Brittens Oper „A Midsummer Night’s Dream“ wird es dort bereits erwartet. Sie recken die Hände nach dem Stoff, aus dem die Träume sind, und spielen anmutig mit ihm, ohne ihn je ganz in den Griff zu bekommen.

Denn in den folgenden drei Stunden entwickelt das Riesentuch ein erstaunliches Eigenleben. An neun Seilen aufgehängt, türmt es sich zu Bergen, bildet Wellen und Hügel oder auch eine gewaltige Wolke: je nachdem, wie die in 23 Metern Höhe unsichtbar agierenden Techniker des Hauses von oben an ihm ziehen. Es macht die spukhaften Verwandlungen mit, von denen der „Sommernachtstraum“ erzählt, und bildet zugleich die Folie für das ebenso phantastische wie verwirrende Spiel um Lust und Liebe.

Die Irrungen und Wirkungen der Liebe führen zum Duell. Oder ist auch dies nur ein Traum? (Foto: Monika Forster/MiR)

Die Irrungen und Wirrungen der Liebe führen zum Duell. Oder ist auch dies nur ein Traum? (Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

Gelsenkirchens Opernintendant Michael Schulz, der Brittens „Sommernachtstraum“ vor zehn Jahren am Essener Aalto-Theater inszenierte, unterwirft sich diesmal beinahe einem Primat der Ausstattung. Mit der Bühne von Kathrin-Susann Brose und den phantasievollen Kostümen der Schwedin Renée Listerdal, die liebevoll bunt sind, ohne grell zu werden, sind wesentliche Züge dieser Neuproduktion bereits beschrieben.

Die Regie lässt uns (absichtsvoll?) im Unklaren darüber, ob sie an eine Trennung von Tag- und Nachtsphäre, von Realität und Traum glaubt oder nicht. Lysander und Hermia sind mit iPad und Selfie Stick fürs Handy zwar zeitgemäß ausgestattet, aber wenn Demetrius und Helena plötzlich so martialisch daherkommen wie Figuren aus einem Computer-Actionspiel, zerfließen die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit.

Der letzte Akt, in dem die Paare eigentlich erwachen sollen, zeigt uns das Quartett im Pyjama. Verwirrt und offenbar auch ein wenig bedrückt schleichen sie davon, wobei sich jeweils wechselnde Partner an der Hand fassen. Ein gelungener „Così fan tutte“-Moment ist dies: Haben wirklich die richtigen Partner zueinander gefunden? Oder könnte die Konstellation auch eine ganz andere sein?

Ist das Quartett wirklich erwacht? Hermia (Anke Sieloff), Demetrius (Michael Damen), Lysander (Cornel Frey) und Helena (Alfia Kamalova) wissen nicht recht, wo ihnen der Kopf steht (Foto: Monika Forster/MiR)

Hermia (Anke Sieloff), Demetrius (Michael Dahmen), Lysander (Cornel Frey) und Helena (Alfia Kamalova, v.l.) wissen nicht recht, wo ihnen der Kopf steht (Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

Ein Coup ist dem Musiktheater mit der Verpflichtung der englischen Dirigentin Julia Jones gelungen, die bereits in Dresden mit Michael Schulz zusammen gearbeitet hat. Das viel beschworene Feingefühl ihres Dirigats bestätigt sich an diesem Premierenabend aufs Schönste. Jones agiert mit größter Achtsamkeit, breitet Brittens vielfarbige Partitur vor uns aus wie ein feines Netz voll geistvoller Querverbindungen.

Bei den Musikern der Neuen Philharmonie Westfalen trifft sie offenbar den innersten Nerv, denn trotz jüngster Monumentalprojekte wie zum Beispiel der „Frau ohne Schatten“ entzückt das Orchester durch die schillernden Zauberklänge von Harfen, Celesta, Vibraphon und Glockenspiel sowie durch eine nahezu gläserne Transparenz. Mit vernehmbarer Lust setzen sie die naturhaft raunenden Laute der Elfenwelt und die Rüpelsphäre der Handwerker voneinander ab. Die Opernzitate im letzten Akt, absichtsvoll ins Groteske verzerrt, sind ein herrlicher Hörspaß.

Oberon (Matthias Rexroth, r.) berät sich mit Puck (Klaus Brantzen. Foto: Monika Forster/MiR)

Oberon (Matthias Rexroth, r.) berät sich mit Puck (Klaus Brantzen. Foto: Karl und Monika Forster/MiR)

Sänger, Chöre und Statisterie werfen sich ebenfalls mit Engagement in das Traumspiel, angeführt vom Elfenkönig Oberon, dessen Part der Countertenor Matthias Rexroth mit zunehmender Strahlkraft singt. Als Elfenkönigin Tytania gibt die Sopranistin Bele Kumberger ihren Einstand am Hause: größtenteils sicher, aber nicht immer ohne Anstrengung durch die Höhen der Partie steuernd.

Spielfreudig und mit ausgewogenen Gesangsleistungen umrahmt das MiR-Ensemble das phantastische Herrscherpaar. Der Schauspieler Klaus Brantzen streut den Menschen als abgelebter, schäbig gekleideter Puck den Blütenstaub einer Zauberblume in die Augen. Die Kombination aus schlampiger Nachlässigkeit und mephistophelischem Hintersinn, die Brantzen dabei zur Schau trägt, macht diesen Geist zu einem ebenso unrasierten wie undurchsichtigen Schöpfer des Chaos.

Derweil mäandert der Strom von Brittens Musik gemächlich dahin. Wer Brittens Tonsprache liebt, kann sich von seinen Zauberklängen ins Land der unentdeckten Gefühle und freigesetzten Triebe hinabziehen lassen.

Folgetermine noch bis Mai 2016. Informationen: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Sommernachtstraum/#events

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