„Glück“ – und was daraus werden kann: Der neue Film von Doris Dörrie

Entlaubt, grau, desolat.
Baum, Himmel, Gegend.
So fängt der Film an. Schon weiß ich, was ich zu erwarten habe. Irgendwann wird zartes Grün sprießen, werden ein blauer Himmel mit entzückenden weißen Wolkenformatiönchen und ein lebendiges Stadtviertel zu sehen sein. Denn schließlich heißt der Film „Glück“ und das muss ja dann auch optisch zu erkennen sein.
Symbolik.

Nun kommt die Vorgeschichte: Irina erleidet ein brutales Schicksal in einem der von Kriegen zerrütteten Länder Osteuropas. Ihre Eltern werden ermordet, sie wird vergewaltigt. Sie taucht tief in einen Fluss ein. Überlegt sie Selbstmord zu verüben? Will sie die Entwürdigung, die Verletzung abwaschen? Vermutlich Letzteres, denn sonst wäre der Film nach 10 Minuten zu Ende gewesen, aber da taucht Irina auch schon in Berlin auf. Wie sie da hingekommen ist, erfährt man im Film nicht. Es steht im Buch „Verbrechen“ von Ferdinand von Schirach, das ich mit großer Begeisterung gelesen habe, und in dem „Glück“ einer von 11 Fällen ist, die er als Strafverteidiger verhandelt hat.

Und hier möchte ich kurz diese Filmbesprechung verlassen, um das Buch zu loben und zu empfehlen. Es ist ein hochspannendes Buch, in einem Stil, den ich gern „bare bones“ nenne. Unverschnörkelt, geradeaus, Fakten. Einfach erzählt, alles Wesentliche ist drin, und dennoch ist es nicht kalt oder unbeteiligt. Ich hab es in einer Nacht gelesen und sofort den zweiten Band „Schuld“ bestellt.

Zurück zum Film.
Natürlich ist es ein Klischee, dass alle Frauen, die aus den osteuropäischen Ländern kommen, illegal in Deutschland sind und ihr Geld auf der Straße verdienen. Aber das war die Buchvorgabe, und es trifft wohl hier und da für einige Frauen zu, egal woher sie kommen.

Nun trifft Irina (Alba Rohrwacher, sehr überzeugend, zurückgenommen in Gestik und Mimik) den jungen Punker Kalle (Vinzenz Kiefer). Der sieht so aus, wie sich der deutsche Michel den Straßenjungen vorstellt: mit strähnigen Zottelhaaren, mehreren Piercings in Unterlippe und Nase, fadendünnen Klamotten und einer stylischen Bikerjacke mit Nieten. Und mit Hund. Aber unter dieser Fassade steckt ein hübscher Teenieschwarm, der im Laufe der Geschichte das ganze Blech aus seinem Gesicht spurlos entfernt. Keine Stechlöcher, wo die Piercings waren, schön geschnittene Frisur, blankpoliertes Strahlegesicht. Alles aus Liebe zu Irina. Und weil er einen Job hat, für den er im Film aber zu blöd ist. Dass eine Zeitung gefaltet werden müsste, bevor sie in den Briefkasten passt, kann man als obdachloser Punk auch nicht wissen. Ist klar. Aber Kalle und Irina sind glücklich, irgendwie ist es egal, dass sie im neuen Ein-Zimmer-Heim Kundschaft bedient und er nichts gebacken kriegt. Die Liebe siegt. Das ist schön, und wenn ich wogende Mohnblütenfelder sehe, und mittendrin räkelt sich Irina, dann habe auch ich verstanden: das ist das reine Glück. Erwachsene, die glückselig in Kinderschaukeln dem schäfchenbewölkten Himmel entgegenschwingen? Achtung: Glück.

Ein schmuddeliger Punk, der für seine Freundin zum Sauberbubi mutiert? Noch mehr Glück.
Ja danke, ich habe verstanden.
Ist es das Glück, das Herr von Schirach meinte?

Der Film ist gefühlte drei Stunden alt, als es endlich zum dem Ereignis kommt, das von dem Anwalt – im Buch dem Ich-Erzähler von Schirach – vor Gericht verhandelt wird: die etwas unorthodoxe Entsorgung der Überreste (und man darf das wörtlich nehmen) eines dummerweise am falschen Ort zur falschen Zeit durch Herzinfarkt verstorbenen (und offenbar auch einzigen) Kunden von Irina.
Weil auch das in den malerischsten Farben beschriebene Glück irgendwann mal kinematographisch ein Ende nehmen muss, wird dann der eigentliche Kriminalfall in den letzten 10 Minuten zwischen einem Verteidiger (Matthias Brandt) namens Noah Leyden (hä???) und einer namenlosen Anklagevertreterin (Maren Kroymann) schwupp-di-wupp in einem Bistro ausgehandelt. Glück.
Zwischendurch gewährt uns der Anwalt noch schnell einige schnipselige Einblicke in sein eigenes familiäres Glück. Mit einer tollen Gattin und zwei gescheiten Kindern. Zu viel des Guten.
Dass Matthias Brandt, der kaum Möglichkeiten hatte, sein Rolle als Anwalt zu unterfüttern, hier so blass blieb, liegt wohl an der Aufbereitung des Drehbuchs.
Was in von Schirachs kompakte Geschichte hineininterpretiert wurde, ist hanebüchen. Überfrachtet mit Symbolik und überwältigend kitschig.

Allerdings gab es im Film tatsächlich eine Szene, die ich besonders erwähnen will: als Irina nach brutaler mehrfacher Vergewaltigung auf dem Tisch liegt und eine weiße mit Lämmchen bestickte Tischdecke komplett über sich zieht. Kitsch? Effekthascherei? Möglich. Aber das hat mich berührt.
Alba Rohrwacher ist ein Lichtblick im Film und ihrer Darstellung ist es zu verdanken, dass ich nicht vorzeitig das Kino verließ.
Ich habe ein Interview gesehen, in dem Herr von Schirach sich zufrieden über den Film äußerte. Frau Dörrie hatte große Hoffnungen für „Glück“ bei der diesjährigen Berlinale. Zu große Hoffnungen werden leider oft enttäuscht.
Vielleicht waren meine Erwartungen ebenfalls zu hoch (was ja bekanntlich auch Enttäuschung erzeugt), und ich habe mich zu sehr ans Buch geklammert?

Ich hatte meine Freundin, die das Buch nicht kannte, ins Kino mitgezerrt. Gerade WEIL sie das Buch nicht kannte.
Selten waren wir uns so einig.

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