Nichts mehr sehen von dem Schmerz der Welt – Lars von Triers Film „Dancer in the Dark“

Von Bernd Berke

Man sitzt im Kino, und es bleibt einige Minuten lang vollkommen schwarz auf der Leinwand. Wann fängt der Film denn endlich an?

Er hat begonnen. Die musikalisch untermalte Dunkel-Passage gehört schon dazu. So wird man eingestimmt auf die Geschichte einer Frau, die allmählich ihr Augenlicht verliert und sich langsam damit abfindet: „Noch mehr von der Welt sehen zu wollen, wäre Gier“, redet sie sich ein.

Die Isländerin Björk, bislang vor allem als höchst kreative Popsängerin gerühmt, spielt in Lars von Triers 138-Minuten-Film „Dancer in the Dark“ (Goldene Palme in Cannes) jene ärmliche Fabrikarbeiterin Selma. Kann sie das?

Björk als bedauernswerte Fabrikarbeiterin

Und ob! Wie dringlich und mutig sie spielt, als ginge es wirklich ums ganze Leben! Daneben verblasst sogar Catherine Deneuve als Fabrikkollegin und besorgte Freundin. Diese Selma ist (ähnlich wie Emily Watson in von Triers bewegendem „Breaking the Waves“) eine jener seltsam entrückten „Heiligen“, eine wie von ganz weit her gesandte Gestalt: bestürzend elend, einsam, erdhaft, nahezu pflanzlich vegetierend, jeder Unbill schutzlos ausgeliefert – jedoch kraft ihrer Leidensfähigkeit und ihrer nie ganz versiegenden Hoffnung geradezu überirdisch erhoben.

Wegen ihrer Sehschwäche bekommt die junge Frau, die aus Tschechien in die USA(hier ein Niemandsland der fahlen Farben) eingewandert ist, Probleme mit der Bedienung der scharfkantigen Maschinen. Doch die allein Erziehende will den Knochenjob um jeden Preis behalten, sie hängt gar Überstunden an. Denn sie muss ja sich selbst und ihren Sohn ernähren, muss die Miete für den schäbigen Wohnwagen zahlen. Wichtiger noch: Sie weiß, dass der Sohn ihre Augenkrankheit geerbt hat. Doch bei ihm wäre durch eine teure Operation noch etwas zu retten. Dafür schuftet sie, dafür spart sie und versteckt das Geld in einer Keksdose im Küchenschrank.

Beim bunten Musical den Alltag vergessen

Ihr einziger Trost sind die abendlichen Musicalproben eines Amateurtrüppchens. Da spielt sie endlich mal eine tragende Rolle. Und sie phantasiert immer wieder Szenen des grauen Alltags zu großen bunten Musical-Auftritten um: Auf einmal tanzen – hinreißend gefilmt, perfekt geschnitten – alle Fabrik-Arbeiter im Rhythmus der Maschinen. Doch eines Tages sieht Selma so schlecht, dass sie sich auf der kleinen Bühne nicht mehr zurechtfindet. Schluss mit Gesang und Tanz, mit himmelwärts schwebenden Tönen. Es ist zum Heulen.

Außerdem betritt nun der Leibhaftige die Szenerie – in Gestalt ihres Vermieters, eines verdrucksten Polizisten. Weil er das Luxusleben seiner Frau nicht mehr bezahlen kann, stiehlt er heimtückisch Selmas Spardose und somit den Hort ihrer Hoffnung. Überdies kehrt er den Spieß um und beschuldigt Selma so ungeheuerlich, dass sie sich zu einer wahnsinnigen Bluttat hinreißen lässt: Aufschrei der gequälten Kreatur, Riss in der ganzen Welt! Diese Szenen treffen einen wie Hammerschläge.

Eine haltlos taumelnde Handkamera

Dass sich Lars von Trier einmal mehr der wackligen Handkamera nach Art der „Dogma“-Filme bedient, hat man in aller Atemlosigkeit längst vergessen – mehr noch: Dieser rohe Stil passt so genau zur Geschichte, dass er die Wirkung steigert. Haltlos taumelt die Kamera durch den Abgrund zwischen den Menschen.

Nun erleben wir ein Gerichtsdrama: So perfide wird die des Mordes bezichtigte Exil-Tschechin als hinterlistige „Kommunistin“ verunglimpft, dass man am liebsten laut protestieren möchte. Doch natürlich lautet das Urteil der Jury: schuldig!

Nachdem der Pflichtverteidiger versagt hat, will ein anderer Advokat sie noch aus der Todeszelle retten – für viel Geld. Doch ihre Entscheidung steht fest: Lieber den Augenarzt für den Sohn bezahlen als den eigenen Anwalt…

Jeder ihrer 107 Schritte zum Galgen wird am Ende schmerzlich zelebriert. Eine lodernde Anklage gegen die Todesstrafe und ihre dumpfen Verfechter.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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