Bilder wie lockende Früchte – Essener Retrospektive zum Werk von Félix Vallotton

Von Bernd Berke

Essen. Mit Superlativen sollte man vorsichtig sein. Trotzdem: In Essen ist jetzt die weit und breit wohl schönste Kunstausstellung des Jahres zu sehen. Zumindest im Ruhrgebiet hat es heuer nichts gegeben, was der Essener Retrospektive über Félix Vallotton gleichgekommen wäre.

Vallotton wurde 1865 in Lausanne geboren. Zwar kam er schon 1882 nach Paris, doch dort malte er anfangs noch nach Schweizer Art: Alpen-Motive, gelegentlich auch mit weidenden Kühen. Mag sein, daß die Franzosen dies ein bißchen rückständig gefunden haben. Alsbald jedenfalls verlegte sich Vallotton auf Porträts, mit denen man im wohlhabenden Paris mehr Geld verdienen konnte. Daraus erwuchs ein erster Gipfel in Vallottons Schaffen: Intérieurs, also Bildnisse, deren Gefühlswerte mit atemberaubender Genauigkeit von Zimmern und deren Einrichtung bestimmt werden. Es ist, als atmeten diese Bilder ihre Stimmungen leise aus.

Vielsagender Hut auf dem Stuhl

Wie konnte dieser Mann die Stofflichkeit erfassen und betörend sinnlich wiedergeben! Im „Bildnis der Eltern“ (1886) glaubt man den samtenen Sesselbezug mit Händen greifen zu können, so haarfein ist er gemalt. Wunderliche Versteckspiele, die eigentlich Enthüllungen waren: Auf dem Gemälde „Der Besuch“ (1887) ist kein lebendes Wesen zu sehen. Nur ein Hut liegt auf dem Stuhl. Und doch ist der ganze, unterschwellig erotische Charakter der Visite im Requisit atmosphärisch eingefangen.

In der Graphik, die gleichfalls mit herausragenden Beispielen vertreten ist, erprobte Vallotton die Wirkung flächiger Darstellung. Von der Figürlichkeit ließ er sich durch derlei Experimente nicht abbringen. Nach und nach schmolzen freilich alle überflüssigen Details weg, und Vallotton gelangte zu einer prägnanten Formensprache, in der die gezeigten Menschen und Dinge nur noch sie selbst zu sein scheinen – ganz ungestört und doppelt wirklich. Wie Früchte, die unmittelbar vor einem liegen und in die man sogleich hineinbeißen kann.

So rinnt denn der Sand wie ein Urbild jeden Sandes, und das Gebirgsmassiv wird zur reinen Struktur, zum allzeit gültigen Zeichen. Die prallen Akte scheinen majestätisch aus den Rahmungen steigen zu wollen. Für Momente vergißt man, daß diese Bilder aus Ölfarbe und Leinwand bestehen.

Ausflüge bis ins Traumreich

In Vallottons Universum haben etliche Stilrichtungen Platz. Manche Landschaften sind symbolistisch behaucht, späte Aktbilder haben die Neue Sachlichkeit angeregt, wieder andere Werke deuten voraus auf surrealistische Traumwelten oder gar auf die abgründige Leere in den Entfremdungs-Szenen eines Edward Hopper. Drei badende Frauen scheinen in einer Art Teersuppe zu versinken, ein Rückenakt im giftgrünen Wasser und vor schwarzblauem Himmel wirkt wie ein monumentales Phantom der Körperlichkeit. Solch visionäre Kunst stößt Pforten der Wahrnehmung auf. Weiche Drogen fürs Auge.

Museum Folkwang, Essen (Goethestraße). 26. November bis 18. Februar 96. Di.-So. 10-18 Uhr, Do. 10-21 Uhr. Mo. geschlossen. Eintritt 10 DM, Katalog 39 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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