Der Kleinbürger möchte ein Monster sein – Franz Xaver Kroetz‘ Sexualkomödie „Der Drang“ bei den Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Otto möchte mit seinem Weibe auch mal tun, was „alle anderen Männer“ mit ihren Frauen dürfen. Doch Ottos Hilde scheut Eskapaden zwischen den Daunen. Kommt vor. Ist normal. Dann taucht Hildes Bruder Fritz auf. Der hat wegen Exhibitionismus im Knast gesessen. Kommt auch vor. Ist aber nicht normal. Oder verhält es sich anders?

In Franz Xaver Kroetz‘ Szenenfolge „Der Drang“, mit der jetzt der 20. Mülheimer Dramatikerwettbewerb eröffnet wurde, ist Normalität nur ein Vexierbild entfesselter Träume. Besagter „Herzeiger“ Fritz ist auf Bewährung frei, er findet Unterschlupf samt Fronarbeit bei Schwester und Schwager in der Friedhofsgärtnerei. Auf den Pflanzenbeeten schießt nicht nur Blattwerk wollüstig ins Kraut…

Um seinen Trieb zu dämpfen, schluckt Fritz Medikamente. Das mindert seinen Drang, doch nicht die Phantasien der anderen. Otto hält seinen Schwager für ein Sex-Monster, das er am liebsten kastriert sähe, das er andererseits aber gern selbst einmal wäre. Der Kleinbürger möchte rasend werden. Auch Ottos Angestellte Mitzi läßt sich anheizen. Sie entlockt Fritz das (falsche) Geständnis, er sei Sadist – und ist sofort bereit, sich erregungshalber mit der Stricknadel pieken zu lassen. Sie bekommt aber nur Ohrfeigen, läßt sich ersatzweise mit Otto ein und beschwört dessen Ehekrise herauf. Am Schluß renkt sich alles halbwegs ein: Fritz geht „geheilt“ seiner Wege, und Otto scheint zu Hilde heimzufinden, die endlich mal wieder Reizwäsche anzieht.

Kroetz, der in dieser Fassung der Münchner Kammerspiele selbst Regie führt, hat seinen Lust-Boulevard in Dutzende von kurzen Szenen gestückelt. Die Bühnenarbeiter, die zwischendurch immer wieder umbauen, sind insgesamt fast ebenso lang auf der Szene wie das sehr beachtliche Schauspieler-Quartett (Sibylle Canonica, Franziska Walser, Horst Kotterba, Edgar Selge). Die Räumerei kostet Zeit, ergibt aber einen gewissen Verfremdungs-Effekt.

In Mülheim geht es vornehmlich um die Qualität des Textes. Dieser erkundet die Bereiche unter der Gürtellinie und in der Hirnschale – bei aller groben Gaudi – letztlich ernsthaft und genau. Auch wenn die Sache im zweiten Teil arg ausgewalzt wird, so ist dies doch ein brauchbares Stück über Domestizierung und Freisetzung des Triebes. Keine bloße Ferkelei also, sondern eine mit gedanklichem Überbau.

Heute abend wird’s in Mülheim mutmaßlich noch härter hergehen. Für den zweiten Wettbewerbsbeitrag, Elfriede Jelineks „Raststätte oder Sie machens alle“, verkünden die Prospekte: „Für Jugendlliche unter 18 Jahren nicht geeignet!“ Kommt noch so weit, daß man mit hochgeschlagenem Kragen ins Theater schleicht.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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