Sehnsucht nach dem Echten – „Lisbon Story“ von Wim Wenders

Von Bernd Berke

Die Fahrt führt von Frankfurt nach Lissabon. Wim Wenders setzt die Zuschauer seiner „Lisbon Story“ gleich mit in den Wagen. Durch die Frontscheibe blicken wir immerzu auf Asphaltbänder. Bald wechseln die Länder, doch die Straßen bleiben sich so ähnlich. Schlimm genug.

Schlimmer noch: Aus dem Autoradio quellen Musik- und Sprachfetzen. Die Stationen nudeln Pop, und die Moderatoren schwadronieren zwar in verschiedenen Sprachen, aber im gleichen Gutelaune-Ton. Und was denkt sich der lakonische Mann am Lenkrad bei all dem? „Europa wächst zusammen“.

Ein Seufzer schwingt mit: Der alte heimatliche Kontinent wird nivelliert, die Suche nach dem Unverwechselbaren immer schwieriger. Wo also kann man noch Bilder fürs Kino finden? Vielleicht am Rande des Erdteils, in Lissabon? Im Innersten der eigenen Seele? Oder kann die Welt gar nicht mehr abgebildet werden? Derlei fundamentale Fragen beschäftigen Wim Wenders und seine Hauptfigur.

Besagter Autofahrer heißt Phillip Winter (Rüdiger Vogler) und ist Tontechniker. Der befreundete Filmemacher Friedrich Monroe (Patrick Bauchau) hat ihn per Postkarte nach Portugal gerufen. Winter soll Originaltöne zu Monroes Filmbildern von Lissabon einsammeln. Doch als Winter nach einigen slapstickreifen Autopannen endlich eintrifft, ist Friedrich fort, wie vom Erdboden verschluckt. Was nun? Warten auf Godot. Winter nistet sich in Friedrichs Behausung mit pittoresker Patina ein.

Einsame Nächte, schwerblütige Gedichte

In einsamen Nächten liest er schwerblütige Gedichte von Fernando Pessoa (der auf deutsch mit Nachnamen „Niemand“ hieße, wie Winter schaudernd bemerkt) oder jagt – kleine Groteske – auch schon mal Mücken. Außerdem begegnet er jenen Musikern, die gleichfalls für die Tonspur arbeiten. Die Sängerin Teresa hat’s ihm angetan. Doch auch diese Angelegenheit kommt nicht vom Fleck.

Winter verfällt also in jene somnambule Stimmung, die der Darsteller Rüdiger Vogler so unnachahmlich vorleben kann. Wie in Trance streift er tagsüber durch die Stadt und nimmt Geräusche auf. Ein wenig in Wallung gerät er nur, als Kinder aus der Nachbarschaft ihn mit einer Videokamera behelligen. Grund des Zorns: Um die Zukunft des Sehens muß es zappenduster bestellt sein, denn der Nachwuchs gibt sich mit einem Gerät ab, aus dem doch nur verfälschte, kommerziell verseuchte Touristenbilder entstehen können…

Und so, angefüllt mit kaum gestillter Sehnsucht nach der wahren Empfindung, verstreicht etliche Zeit. in der uns Wim Wenders alle Wonnen der Minuten-Dehnung auskosten läßt. Wer wird dies „Langeweile“ nennen, wo doch unterwegs das hundertjährige Kino und seine Urgründe noch einmal ganz von vorn aufgerollt werden? Sogar die gute alte Kreisblende, mit der die Bilder allmählich sich zum Punkt verkleinern, kommt dabei zu Ehren.

Ein deutscher Film! Gründlich traumverloren, immer dem Eigentlichen auf der Fährte. Wie lautete doch jener Werbespruch? „Für das Echte gibt es keinen Ersatz“.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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