Immer wieder er hat seine Coming-of-Age-Story vom schüchternen Jungen in einem amerikanischen Provinzkaff der 1980er Jahre verändert und umgeschrieben, das ausufernde Manuskript radikal eingekürzt, an der Alltagssprache des Erzählers geschraubt.
Nächtelang hat er gegrübelt, warum er die Geschichte so wichtig findet und sie anderen mitteilen will, was sie mit seinem eigenen Leben zu tun haben könnte und ob die darin verwickelten Figuren vielleicht Gedanken und Wünsche von ihm selbst, dem Autor Benedict Wells, transportieren. Auch am Einstieg, mit dem er seine Leserschaft sofort neugierig machen, fesseln und nicht mehr vom Haken lassen will, hat er unzählige Male gefeilt.
Plötzlich ist alles ganz klar
Manchmal hatte er Angst, er kriege den Roman einfach nicht in den Griff und müsse ihn erst einmal für ein paar Jahre in die Schublade versenken. Dann plötzlich ist ihm alles ganz klar, er weiß, dass alles gut werden wird und tippt ohne zu wissen, wie ihm gerade geschieht, den ersten Satz in seinen Computer, der alles auf den Punkt bringt und den Kern des Buches enthält, das ein paar Monate später unter dem Titel „Hard Land“ herauskommt, ein Riesenerfolg werden und ihm einige Preise einbringen wird: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“
Den vorbelasteten Namen abgelegt
Der 1984 in München geborene Benedict Wells gehört zu den herausragenden Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sein vierter Roman („Vom Ende der Einsamkeit“) stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste und wurde in 38 Sprachen übersetzt. Für „Hard Land“ bekam er den Deutschen Jugendliteraturpreis. Dass es einmal so kommen würde, hatte der Autor, der sich aufgrund der Nazi-Verstrickungen seiner Familie von seinem eigentlichen Nachnamen (von Schirach) verabschiedete, sich eine neue Identität zulegte und sich – zunächst ohne jede Aussicht auf Anerkennung – ganz dem Schreiben hingab, nicht erwartet.
Noch dazu genau der richtige Verlag
Mehrfach kappte er Freundschaften und Verbindungen, vagabundierte durch die Welt, lebte in Berlin und Barcelona, hielt sich mit Jobs über Wasser, arbeitete beharrlich weiter an seinen Texten, die damals niemanden interessierten. Dann waren die Jahre der selbstquälerischen Einsamkeit urplötzlich vorbei: Ein Literaturagent nahm sich seiner an und vermittelte ihn ausgerechnet an jenen Verlag, zu dem er immer wollte, weil dort all die Autoren erschienen, die er insgeheim anhimmelte.
Auch davon berichtet Benedict Wells jetzt in seinem autobiografischen Buch, in dem er über sein Werden und Wollen, seine Familien-Abgründe, literarischen Vorlieben und schriftstellerischen Ambitionen Auskunft gibt: „Die Geschichten in uns“ ist eine Expedition in die literarische Werkstatt des Autors. Wells öffnet Türen in sein Innerstes, zeigt seine Verletzlichkeit, nimmt uns mit auf die Suche nach neuen literarischen Möglichkeiten.
Wie Texte wirksam gekürzt werden
Manches liest sich wie ein Handbuch für Autoren, die lernen möchten, wie man verquasselte Texte auf das Wichtigste kürzt, Gedanken verdichtet und die Erzählperspektive wechselt, Figuren entwickelt und Themen variiert. Er fuhrwerkt in seinen eigenen Romanen und zitiert seine Lieblingsautoren. Joey Goebel gibt dem unsicheren Autor den Rat: „Eine wirklich starke Figur wird innerhalb des Buches geboren.“ Philip Roth rät ihm zur unbedingten Ausdauer: „Amateure warten auf Inspiration. Profis setzen sich hin und arbeiten.“
Wells verrät uns, warum er schreibt und warum wir lesen sollten: „Wir brauchen die Geschichten in uns, aber auch die von anderen, weil wir in ihnen unser Menschsein erkennen. Denn wieso fühlen wir uns auch von Texten verstanden, die nichts mit unserer Lebensrealität zu tun haben, deren Figuren aus anderen Ländern kommen und mit anderen Problemen kämpfen? Weil wir an Wahrheit interessiert sind und wissen wollen, wer wir sind.“
Benedict Wells: „Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben“. Diogenes, Zürich 2024., 401 S., 26 Euro.