Von Bernd Berke
Kassel, Ortsteil Nordhausen. Ein verwitterter roter Backsteinbau. An der Mauer ein unscheinbares, verblichenes Schild: „Erich Röth Verlag“. Nichts deutet darauf hin, daß hier Schätze gehortet werden. Zwar türmen sich keine Goldbarren, aber es fauchen, fleuchen und brummen so alltagsferne Wesen wie „Der blaue Drache“, „Der Vogel Mitternacht“ und „Der Bärensohn“. Die Rede ist von Märchen und von Büchern.
Verleger Diether Röth (58), der die Edition übernahm, hat am Kasseler Stadtrand so etwas wie eine zentrale Sammelstelle für Märchen aus aller Herren Länder eingerichtet. Röths besondere Methode: Er schickt Märchensammler in sämtliche Erdteile, wo die wun- dersamen Geschichten vor Ort mit dem Tonbandgerät so aufgezeichnet werden, wie sie aus dem Mund des Erzählers kommen. Und so – natürlich ins Deutsche übersetzt – werden sie auch abgedruckt. Bei der Übertragung in unsere Sprache wird streng darauf geachtet, daß die Frische des gesprochenen Worts nicht verlorengeht. Diether Röth: „Auf diese Weise bleibt die Lebendigkeit unmittelbaren Erzählens erhalten. Das wirkt anders als der trockene Stil von Grimms Märchen.“
Schon die Untertitel der so entstandenen Bücher klingen märchenhaft-abenteuerlich. Beispiele: „Reiter auf dem Elch. Erzählt von dem Berglappen Siri Matti“; „Aura Poku. Erzählt von König Anubli und Stammesältesten“; „Das Elefantenspiel. Erzählt von Häuptling Schungwitscha“.
In dem früher in Thüringen ansässigen Kleinverlag, der heuer 60 Jahre alt wird, erscheint demnächst der fünfzigste Band der Paradereihe „Das Gesicht der Völker“. Röth, der diese Märchenkollektion als sein Lebenswerk bezeichnet, ist ein Verleger alten Schlags. Er achtet nicht so sehr auf die Rendite, sondern produziert Bücher, die ihm selbst gefallen. Die vor ein paar Jahren anbrandende Folklore-Welle kam auch den Auflagenzahlen seiner Bücher (je nach Band zwischen 3000 und 5000) zustatten. Röth: „Ich habe mich aber nie nach solchen Moden gerichtet. Originalausgaben wie meine Märchenbücher müssen ,ausreifen‘ und können nicht kurzfristig auf den Markt geworfen werden.“
Ein Medienriese ist Röths Verlag mit dieser Philosophie nicht geworden. Druckort ist – aus Kostengründen – Budapest. Diether Röth beschäftigt in seinem Unternehmen lediglich drei Halbtagskräfte. Er ist sein eigener Graphiker, sein eigener Lektor. Er entwirft die Bucheinbände selbst und erstellt die Anmerkungen am Schluß jedes Bandes in Eigenarbeit. Auch sieht er sich außerstande, den Märchensammlern die Kosten für Reisen in ferne Gefilde zu erstatten. Daher sind es oft Entwicklungshelfer oder deren Ehepartner, die nebenbei auf Märchenjagd gehen.
Beispiel Marianne Klaar. Die 75jährige Freiburgerin ist Roths Spezialistin für griechische Märchen, ganz besonders für jene, die auf den griechischen Inseln erzählt werden. Durch langjährige Beschäftigung mit den Inseldialekten wurde sie zu einer von den Einheimischen akzeptierten Gesprächspartnerin. Diether Röth: „Sie gewann das Zutrauen der einfachen Bevölkerung eher, als es einem Athener möglich wäre. Der hätte nämlich nach Meinung der Inselbewohner zu gebildet gesprochen und dadurch Distanz geschaffen.“
Auf der Zykladeninsel Lesbos angelangt, ging Marianne Klaar nicht etwa zu Bürgermeistern, um sich von ihnen die besten Märchenerzähler empfehlen zu lassen. Nicht nur Könige und Häuptlinge erzählen in fernen Ländern die Märchen, sondern auch die einfachen Leute. Marianne Klaar mischte sich also unter Volk, nahm teil an dessen Alltag. Ihr Verleger: „Bei der Zubereitung von Osterfladen stellte sie sich absichtlich so ungeschickt an, daß man sie freundlich auslachte. So entstand ganz von selbst die Stimmung, in der man zu Scherzen aufgelegt ist, in der man Schwänke zum besten gibt oder eben Märchen erzählt.
Größere Schwierigkeiten hatte Gisela Borcherding, Frau eines Entwicklungshelfers, auf ihrer Märchensuche in Afghanistan. Sie mußte nämlich erfahren, daß sich auf den Märkten zwar Berufserzähler verdingen, die ihr Geschichten für Bares preisgeben, daß sie jedoch im Nu verstummen, sobald sich ein weibliches Wesen nähert. Teilzunehmen am öffentlichen Leben, und sei es nur, indem sie dem Märchenerzähler zuhört, ist der Frau im Islam verwehrt. Gisela Borcherding wandte Sich nunmehr an ihre Nachbarin oder an umherziehende Holzsammler, die es mit der Landessitte nicht so streng hielten. Mit einem Tonbandmikrophon freilich durfte sie längst nicht allen Gewährsleuten kommen. Manchen galt derlei EIektronik als „Teufelswerk“.
Was geschieht, wenn einem Märchenerzähler das Gedächtnis einen Streich spielt und er gar nicht das im Volk Überlieferte, sondern eine spontane Variante vorträgt? Bevor Diether Röth die Sammlungen publiziert, prüft er jedes Detail. Dabei zieht er dickleibige Wälzer zu Rate, in denen praktisch alle Märchenelemente, die je bekannt wurden, erfaßt sind – insgesamt über 2000. Für Röth, der seit 30 Jahren täglich mit Märchen zu tun hat und unter anderem Völkerkunde studierte, sind die Überprüfungen meist Routinesache. Einmal stutzte jedoch auch er: Ein griechisches Märchen lag in einer so seltsamen Fassung vor, daß es lange dauerte, bis Röth hinter die Ursache kam. Der Erzähler hatte, ohne böse Absieht, ein uraltes Märchen aus Hellas mit der Handlung einer Geschichte aus „1001 Nacht“ verwoben, letztere noch dadurch verfremdet, daß er sie einem in Griechenland erschienenen Groschenheft entnommen hatte. Überhaupt werden wohl Trivialheftchen und andere Massenmedien auch in entlegenen Ländern das Sammeln unverfälschter Märchen zunehmend erschweren.
„Vielleicht bleiben uns noch 10 Jahre“, grenzt Diether Röth den Wettlauf mit Zeit und Ziviliation ein. Ganz dringend sucht er daher noch Märchen aus der Karibîk und Märchen der nordamerikanischen Indianer. Da Eile geboten ist, bat Röth die UNESCO um finanzielle Unterstützung. Die Weltorganisation lehnte jedoch ab. Röth argumentiert, daß seine Buchreihe, aus der einiges auch schon ins Russische übersetzt wurde, das Verständnis für fremde Völker fördern könne und damit ein kleiner Beitrag zur VöIkerverständigung sei.
Heftig dementiert Diether Röth hingegen die Behauptung, daß Märchen nur für Kinder geeignet seien: „Manchmal ist das Gegenteil der Fall. In einigen, sehr sittenstrengen Ländern werden die Kinder sogar hinausgeschickt, wenn die Erwachsenen einander Märchen erzählen“.
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WR-Wochenendbeilage Weihnachten 1981