Ganz Dortmund gab sich dem Vergnügen hin – Üppige Ausstellung zur Freizeit-Geschichte

Von Bernd Berke

Dortmund. Hereinspaziert, hereinspaziert! Ganz Dortmund gibt sich dem Vergnügen hin. Die einen wandern ins Grüne, die anderen schlendern durch elegante Passagen; nachmittags geht’s ins (fast) original Wienerische Caféhaus — und abends ins Theater oder Varieté.

Natürlich war es nicht ganz so. Nicht jeder konnte sich alles leisten. Und außerdem ist es so lange her, daß es jetzt ins Museum kommt: Das Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte hat – für seine bislang größte Präsentation – rund 800 Exponate zusammengetragen. Sie sollen davon zeugen, wie die Dortmunder zwischen 1870 und 1939 ihre oft karge Freizeit verbrachten.

Freizeit gleich Vergnügen? Diese Rechnung geht nicht bruchlos auf. Hinter den knallbunten Kulissen von Zirkus, Jahrmarkt oder Lunapark gab es schon zu Kaisers Zeiten Freizeit-Streß. Und mancher Spaß war reichlich bizarr. Da ließen sich unsere Altvorderen etwa auf der Kirmes freiwillig leichte Stromstöße verpassen – welch‘ fröhliche Wissenschaft… Vor allem aber setzte früh die Kommerzialisierung der Freizeit ein. Verkaufs- und Spielautomaten von anno dazumal beweisen es. An dem Modell „Hopp-Hopp“ konnte man (durchaus stadttypisch) Biermarken gewinnen.

Die üppig bestückte und teilweise drangvoll eng gestellte Schau „umarmt“ ihr Thema gleichsam von allen Seiten: Um das Vorort-Freibad Froschloch geht es ebenso wie um luxuriöse Warenhäuser und Hotels; die Westfalenhalle (Sechstagerennen) spielt ebenso eine Rolle wie die berüchtigte Linienstraße, Dortmunds Zeile der käuflichen Liebe. Auch einige alte Radios werden gezeigt. Man hörte halt in der Freizeit Funk.

Beim Anblick von Fotos und Programmblättern der großen alten Varietés befällt zumindest den eingesessenen Dortmunder Wehmut: Wo ist diese Eleganz geblieben? Zu Schutt und Asche ist sie geworden – im Zweiten Weltkrieg. Jahre zuvor hatten sich die Nationalsozialisten schon der Freizeit bemächtigt. Besonders interessant ist der Fall des Marionettentheaters Kastner. Der Bayer hatte sich mit seiner Puppenbühne in Dortmund niedergelassen und spielte zwar keine Blut-, aber Boden-Stücke. Das kam den Nazis gelegen. Die spannten Kastner für ihre KfF-Belustigungen („Kraft durch Freude“) ein. Freizeit als Ablenkung vom gesellschaftlichen Elend. Nicht minderen Dienst genommen wurde das Dortmunder „Haus der Kunst“.

Freizeit war auch eine Klassenfrage. Während der Proletarier sich aufs Fahrrad schwang, nahm der Bonze beispielsweise in der kapitalen „Horch“-Limousine Platz – eines der auffälligsten Exponate neben dem imposanten „Kaiserpanorama“.

Freizeit war, das Wort sagt es ja, eben auch eine Zeit-Frage. Auf einem Podest voller Uhren wird dem Besucher allerdings kaum klar, daß erst die Einteilung der Zeit, die Abgrenzung von Arbeit und Muße den Begriff „Freizeit“ hervorbrachte.

Rundum gelungen ist die Schau nicht. Obwohl der Bühnenbildner Gerd Herr hie und da für schöne „Inszenierungen“ gesorgt hat, gibt es auch ein paar ärmlich wirkende Ecken. Daß man etwa einige Reihen alter Kinostühle vor ein Großfoto aus einem Harold-Lloyd-Streifen stellt, bleibt weit hinter einer entsprechenden Installation in der thematisch vergleichbaren Essener Ausstellung „Viel Vergnügen“ (Ruhrlandmuseum, bis 12. April ’93) zurück.

Ansonsten haben die Dortmunder eine ungleich größere Fülle zu bieten, in der jeder etwas für sich findet. Und im Ganzen ist die Sache höchst sehenswert. Deshalb, wie gesagt: Hereinspaziert!

„8 Stunden sind kein Tag“. Freizeit und Vergnügen in der Industriestadt Dortmund 1870 bis 1939 – Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund (Eingang Königswall). Ab sofort bis 4. Juli 1993. Di-So. 10-18 Uhr – Umfangreiches Begleitprogramm mit Aufführungen, Diskussionen usw. (Info: [02 31] 5 02 55 22). Eintritt 6 DM, ermäßigt 3 DM. Katalog mit 360 Seiten 49 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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