Von Bernd Berke
Emden. Die Frau näht. Auf dem Porträt ist sie ganz in sich versunken. Sie blickt nicht auf. Doch man sieht sogleich: Zu ihr muß der Künstler ein ganz inniges Verhältnis gehabt haben. In der bloßen Linienführung liegt unendlich viel Zärtlichkeit. Tatsächlich: Die Frau, die wir da sehen, ist August Mackes Elisabeth, eine „Sandkastenliebe“, die er später geheiratet hat.
So ist es meistens. Mackes Bilder bringen tiefen Frieden, bringen Schönheit ohne Beschwernis. Daher wohl auch die fulminanten Ausstellungs-Erfolge – zuletzt vor ein paar Jahren in Münster, als sich Hunderttausende durchs Landesmuseum schlängelten. Sollte in Emden, wo man nun mit Macke erneut einen „Gesang von der Schönheit der Dinge“ (Ausstellungstitel) anstimmt, auch nur halb so viel Andrang herrschen, so wäre die Infrastruktur der ostfriesischen Kleinstadt überfordert.
176 Zeichnungen und Aquarelle sind zu sehen. Bei Macke sind Papierarbeiten eine Hauptsache. In seinem tragisch kurzen Leben (1887 bis 1914, als er im Ersten Weltkrieg fiel) hat der gebürtige Mescheder, der meist in Bonn wohnte, über 10 000 Blätter geschaffen. Wo er ging und stand, skizzierte er seine Eindrucke – mit Bleistift, Kohle, Kreide, Tusche, Aquarellfarben. Wo andere ein bis zwei Worte notiert hätten, brachte er ein Bild hervor.
Das schwankende Glück beim Seiltanz
Einige Arbeiten werden in Emden sogar erstmals gezeigt. Noch nie ausgestellt war z. B. jenes in frohen Farben rotierende „Karussell“ (1912) mit Kindern. Ganz wunderbar leicht hingetupft, verrät das kleine Bildchen noch Mackes Hang zum Impressionismus. Über das Leben „leicht hinwegzutanzen“, wie er einmal schrieb – das war Mackes Vorstellung vom Glück. Die thematisch statt chronologisch gegliederte Schau widmet den Tanzbildern eine eigene Abteilung. Doch diese Feier der Lebensfreude hat ihre Schattenseite. Denn ein anderes Lieblingsthema ist der Seiltanz – und damit das schwankende, stets bedrohten Glück.
Daß er das Leben lieber mit hellem Blick ansah, zeigen Mackes Bilder über Spaziergänger. Auch hier nimmt der Künstler das Leben ganz leicht, wie im Vorübergehen. Ein Dix oder Grosz hätten hier sicherlich ätzende Kritik am städtischen Sündenbabel geübt. Wenn aber Macke vorzugsweise elegante Damen an Schaufenstern entlang flanieren läßt, werden lichte Sehnsuchts-Bilder daraus. Von Konsumterror keine Spur.
Doch seicht oder weltfremd war Macke nicht. Stellt er etwa zwei Frauen und einen Mann ins Bild, so herrscht da auch schon mal eine Spannung, in die man sich eine dramatische Dreiecksgeschichte hineindenken kann.
Durch Stickvorlagen zur Abstraktion
Die Kunst-Avantgarde seiner Zeit hat er sehr genau wahrgenommen. Davon zeugt seine bildliche „Persiflage den Blauen Reiter“. Er hat sich gelegentlich auch abstrakten Tendenzen zugewandt. Bemerkenswert, daß Macke mit eher biederen Vorlagen zu Stickarbeiten, die eine vereinfachte, flächige Formensprache erforderten, auf den Pfad der Abstraktion geriet.
Doch er kehrt immer wieder zum Figürlichen zurück, ja er entwickelt im Laufe der Zeit ein Standard-Repertoire. Beinahe wie Spielsteine werden immer wieder ähnliche Personen-Umrisse in verschiedene Bilder gesetzt. Fast könnte man dies als Beschränkung (miß)verstehen.
Spätestens während der berühmten Tunis-Reise (zusammen mit Klee und Moilliet) befreit sich Macke vollends von formalen Grenzen: „Die Farbe hat mich!“ rief er damals begeistert aus und empfand sich erst jetzt ganz und gar als Künstler. Und wahrhaftig: Die Leuchtkraft der Farben ist nun überirdisch.
Ein Besuch in Emden lohnt (abgesehen von Macke-Ausstellung und Seeluft) allein wegen der Kunsthalle. Da hat Henry Nannen, bekanntlich zu besten Zeiten des „Stern“-Magazins dessen Chefredakteur, seiner Heimatstadt mehr als ein Kleinod gestiftet.
August Macke: „Gesang von der Schönheit der Dinge“. Kunsthalle Emden / Ostfriesland. 8. November bis 7. Februar 1993. Di 10-20, Mi/Do/Fr 10-17 Uhr, Sa/So 11-17 Uhr. Katalof 42 DM. Anschließend geht die Ausstellung nach Ulm und Bonn (dort Mai bis Juli ’93).