Es wimmelt die Revier-Kultur – und alles ist so wunderbar

Für den ersten Überblick: Einleitende Doppelseite des Bandes, auf der es noch nicht so wimmelt, wie auf den nachfolgenden. (Bild: © Klartext-Verlag / Junior Klartext / Zeichnung Jesse Krauß)

Ah, Wimmelbücher! Die enthalten doch jene klein- bis kleinstteilig gezeichneten Tableaus, auf denen man immer und immer wieder noch etwas Neues, bisher Unbeachtetes entdecken kann. So auch im Band „Unterwegs im Ruhrgebiet“, der sich im Untertitel „Das große Wimmelbuch der Ruhr-Kultur“ nennt und vor allem (aber nicht nur) Kinder ansprechen soll.

Blättert man ein wenig auf den 22 großen Pappseiten hin und her, wird einem schon bald klar, dass etwaige Mängel der Region konsequent ausgespart sind: Hier wird geschwelgt – in Fülle und Vielfalt der Kulturstätten sowie in touristischen Attraktionen des Reviers. Dazwischen tummeln sich zuhauf die wunderbaren, stets vergnügten und allzeit kreativen Menschlein, die hier gut und gerne leben. Da könnten die Leute aus Stuttgart und München ganz schön neidisch werden. Von Berlin ganz zu schweigen.

Die Attraktionen liegen hier ganz nah beieinander

Natürlich rücken, um derlei Wow-Effekte zu erzielen, die lohnenden Locations ganz eng zueinander, da befindet sich die riesige Essener Weltkulturerbe-Zeche Zollverein beispielsweise direkt neben dem gleichfalls gigantischen Oberhausener Ausstellungsort Gasometer und dem LWL-Archäologiemuseum in Herne. Das ist nicht so ganz realistisch. Zwar gibt es in dieser Region wirklich etliche kulturelle Anziehungspunkte. Doch in Wahrheit muss man sich, um diese Orte hintereinander zu erreichen, mit oft unzureichenden Nahverkehrsplänen und mangelhaften Verbindungen herumschlagen; es sei denn, man zöge den Stau auf der A 40 oder der A 42 vor. Okay, das war jetzt nicht falsch, aber gemein – und für Kinder wohl erst mal zweitrangig (abgesehen vom notorischen Rücksitz-Gequengel „Wann sind wir endlich da-haa?!“).

Ein Ansatzpunkt der genregemäß detailfreudig gezeichneten und kolorierten Szenarien (fleißiger Urheber: Jesse Krauß) ist die kunterbunt illuminierte „Extraschicht“ als alljährliche Leistungsschau zur Revierkultur. Da waren natürlich bis tief in die Nacht Sonderbusse unterwegs und alles war ganz prima in der problemfreien Zone Ruhrgebiet.

Im Geiste des Regionalverbands Ruhr

Die kurzen Begleittexte dürften dem städteübergreifenden Regionalverband Ruhr (RVR) ausnehmend gut gefallen. Das Verbandsgebäude nimmt denn auch in den Zeichnungen einen prominenten Platz als planerisches Hauptquartier ein. Auch hierzu könnte man etwas anmerken, aber lassen wir das an dieser Stelle. Statt dessen zitieren wir diese Lobhudelei: „Der Regionalverband Ruhr ist das, was die elf Städte und vier Kreise der Metropole seit 1920 zusammenhält. Herzlichen Glückwunsch zum 100. Geburtstag!“

Nur zur Klarstellung: 1920 hieß das Gebilde noch nicht Regionalverband Ruhr, sondern anfangs noch Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk und von 1979 bis 2004 Kommunalverband Ruhrgebiet. Egal. Das interessiert draußen im Lande die Wenigsten, vor allem nicht die Kinder; auch dürften die es nicht gar so aufregend finden, dass RVR-Verbandsdirektorin Karola Geiß-Netthöfel auf einem Bild dem Bundespräsidenten Steinmeier (sicherlich vor Corona!) die Hand reicht. Oder ist das nur eine Halluzination? Auch nicht so wichtig.

Titelseite des besprochenen Buches (Bild: © Klartext-Verlag)

Das Ruhrgebiet erscheint hier generell als das, was es immer noch nicht ist: als vereinigte „Ruhrstadt“, von der man beim RVR seit vielen Jahren träumt. Freilich: Der Regionalverband und die Funke-Mediengruppe (zu der wiederum der Klartext-Verlag gehört) residieren in Essen – und so erscheint diese Stadt auch hier als Kraftzentrum des gesamten Reviers. Folglich hat etwa das Kreativ- und Museumszentrum „Dortmunder U“ im Osten des Ruhrgebiets einen vergleichsweise kleinen Auftritt. Aus der Essener Perspektive ist halt auch das Schalke-Hemd mal wieder näher als der BVB-Rock. Apropos Religion: Dem Essener Ruhrbistum ist eine eigene Doppelseite gewidmet. Halleluja!

Riskante Fahrt durch Gelsenkirchen-Ückendorf

Vom spezifischen Reiz eines Wimmelbuchs haben wir unterdessen noch gar nicht gesprochen. Hier kann man sich auf Bildersuche begeben. Welche Orte und Gebäude erkennt man? Welche Figuren oder Konstellationen tauchen auf verschiedenen Seiten wiederholt auf? Gibt es etwa „running gags“ oder sonstige Kreuz- und Querbezüge? Wo haben sich lustige Tiere versteckt? Und so fort. Na, dann sucht mal schön!

Nicht alles ist unbedingt nachahmenswert. Was soll man zum Beispiel vom tollkühnen Skater halten, der auf äußerst schmaler Spur zwischen Bus und Straßenbahn dahersaust? Und was ist mit dem Mädchen, das am Metallgeländer turnt und dabei fast vor den Linienbus tritt? Geht’s denn in der Bochumer Straße von Gelsenkirchen-Ückendorf „in echt“ so riskant zu?

Am Ende ist das Ganze ein utopisches Projekt

Das generelle Erscheinungsbild ist jedenfalls bis in die Einzelheiten durchweg positiv: Das Revier ist demnach durchzogen von veritablen Radfahrer*innen-Autobahnen, herrlich durchgrünt und reich an sauberen Gewässern aller Art, vom Baldeneysee bis zum lieblich renaturierten Emscher-Fluss. Bewohnt wird die kulturgesättigte Gegend von lauter genuss- und lesefreudigen Menschen, zudem ist sie ein Hort von Bildung und Wissenschaft, doch auch der musealen Besinnung – nicht zuletzt aufs eigene Erbe der allerdings gründlich überwundenen Zechen- und Stahl-Ära. Dazu urige Stadtviertel, quicklebendig urbane Quartiere – was will man mehr?

Ach, wer in dieser menschenfreundlichen, ökologischen, gewiss klimaneutralen Stadtlandschaft wohnen könnte! Wenn doch das Revier tatsächlich durchweg ein solch bunter Abenteuerspielplatz der Lebensfreude wäre! Insofern erweist sich das Buch im Grunde als utopisches Projekt. So könnte es vielleicht sein, wenn… Ja, wenn.

Jesse Krauß  (Illustrator) / Melanie Kemner (Herausgeberin): „Unterwegs im Ruhrgebiet. Das große Wimmelbuch der Ruhr-Kultur“. Klartext-Verlag, Essen. 22 großformatige Seiten, jeweils ganz- oder doppelseitige Illustrationen mit kurzen Texten. Pappband, 16,95 Euro.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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