Von Bernd Berke
Wuppertal. Bevor Pina Bauschs neuer Wuppertaler Tanzabend anfing, betrat Intendant Holk Freytag die Bühne: Man möge keine fertige Inszenierung erwarten, sondern ein „work in progress“, einen Werkstatt-Einblick also. Freytag sprach den Standardsatz dieser Tage ironisch: Es werde auch hier in den nächsten Wochen zusammenwachsen, was zusammengehöre.
Dann die erste Szene. Stille. Lang blicken wir auf eine Mauer, die schließlich mit Getöse in sich zusammenstürzt. Heiterkeit im Publikum. Deutsch-deutsche Anspielungen auch hier? Nun, zwangsläufig wird dieses Bild derzeit so „gelesen“; es steht (und fällt) aber vielleicht eher als allgemeines Zeichen für Durchbruch. Auch sollen wir ja nicht starr nach Deutschland schauen, sondern – dem vorläufigen Arbeitstitel „Palermo“ gemäß – nach Sizilien.
Freilich sind die dort landläufigen Szenerien, die das Wuppertaler Tanztheater bei einer Reise in sich aufnahm, längst durch Gruppendyamik und freie Assoziationen verwandelt (und dem Stil der Pina Bausch anverwandelt). Italien – das ist hier oft nur noch ein ferner, leiser Anklang. Es geht nicht um Reisebilder, sondern um Gefühlsbilder, deren Rätselhaftigkeit wiederum schwerlich in Begriffssprache „rückübersetzt“ werden kann.
Keine Sehnsucht kommt ans Ziel
Die Frauen sind diesmal nicht, wie früher so oft bei Pina Bausch, Opfer männlicher Attacken. Die Männer. zumeist dienstbare Geister, dürfen die weiblichen Körper allenfalls in schöner Schwebe halten oder in Schwung setzen; sie werden von den Frauen fast wie Hündchen herbeigerufen und barsch aufgefordert: „Nimm meine Hand!“ – „Halte mich!“ Doch die Geschlechter stammen „von verschiedenen Planeten“, man(n) kann nichts recht machen, keine Sehnsucht kommt da ans Ziel. Wenn die Männer die Befehle ausführen wollen, nehmen die Frauen sie meist sofort unwirsch zurück.
Überhaupt ist dies erneut eine Abfolge zurückgenommener, abgebremster, „umgebogener“ und „versickernder“ Gestik. Gäbe es eine leibliche Entsprechung zu Stichworten, so könnte man von „Stich-Bewegungen“ sprechen: Chiffren unerfüllten und ungelebten Lebens allenthalben, aber auch immer wieder Versuche, den Körper gestisch ganz neu zu definieren, ihn sozusagen in die Zukunft zu zaubern. Und vielfach ein Aufblitzen von Humor, der vom sehr konzentrierten Ensemble mit todernsten Mienen serviert wird.
Eine Maschinerie, die unentwegt Bilder erzeugt
Zahllose Kürzest-Geschichten könnte man erzählen – und hätte doch nicht das Entscheidende gesagt: Die Frau, die sich Zucker von den Lippen küssen läßt; entwurzelte Bäume, die vor verwaschenem Regenhimmel herabsinken; zwei Schönlinge, die sich Zitronensaft in die Haare träufeln: ein Preisboxer, der sich in eine tuntige Freiheitsstatue verwandelt: eine Frau, die sich – eine ausrinnende Flasche zwischen den Beinen – trotzig-triumphierend erleichtert „wie ein Mann“; eine andere, die ein paar Spaghetti als ihr Eigentum verteidigt. Später wird einer diese spitzen Nudeln wie Dolche gegen seine Brust richten – Beispiel dafür, wie hier beinahe jedes Bild fließende Bedeutung erlangt. Manchmal scheint es, als laufe da eine Maschinerie, die unentwegt Bilder erzeugt und vergehen läßt.
Die Überfülle solcher Geschehnis-Bruchteile hat tatsächlich noch den Charakter einer unfertigen, wenig strukturierten Materialsammlung. Die Reihenfolge der Szenen könnte sich ohne weiteres ändern. Nur der zweite Teil scheint schon stärker durchgearbeitet. Freilich gelingen Pina Bausch, dem Bühnenbildner Peter Pabst und der Tanztruppe auch in diesem Zwischen-Stadium bereits häufig jene starken, fremden und – trotz eines wiedererkennbaren Stils – in ihrer konkreten Gestalt völlig unerwarteten Bildszenen, denen man verfallen konnte. Überdies ist die Musikauswahl – Klänge aus allen Weltteilen – superb.
Der Premierenbeifall (volle „Fankurve“) war grandios.