Kubismus mit Überraschungen – Genfer Sammlung erstmals in Deutschland

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Daß eine vermeintlich wohlbekannte Stilrichtung in der Kunst auch nach vielen Jahrzehnten überraschende Seiten darbieten kann, belegt eine Ausstellung, die am Sonntag in Recklinghausen eröffnet wird (und bis 15. Januar 1984 dauert). „Aspekte desKubismus“ lautet der Titel – und es hängt kein einziges Bild von Picasso, Georges Braque oder Juan Gris in der Kunsthalle. Wie das?

Es geht um Maler aus mehreren europäischen Ländern, die von diesen Leitfiguren beeinflußt und „in Richtung Kubismus gedrängt“ worden sind, Die 62 Werke von 20 Künstlern entstanden 1910 bis 1935 und sind sämtlich Leihgaben des Petit Palais in Genf, das damit gleich drei Viertel seiner Kubisten-Sammlung der Recklinghäuser Kunsthalle anvertraut. Die Bilder sind erstmals außerhalb der Schweiz zu sehen.

Dem Betrachter bleiben Irritationen nicht erspart. Wer unter Kubismus – grob gesprochen – die Zusammensetzung des Bildes aus geometrischen Formen wie Würfel und Zylinder versteht, macht hier Bekanntschaft mit den Randbezirken dieser Kunstrichtung. Zahlreiche Mischformen zeigen eine erstaunlich Bandbreite dieser Kunstform, die via Paris (alle hier vertretenen Künstler haben dort zumindest vorübergehend gelebt) auch von Malern aus Rußland, Polen, Ungarn oder Rumänien aufgenommen und erprobt wurde. Diese West-Ost-Verbindung – so unter anderem die frappierende Vermengung von Ikonen-Stil und Kubismus bei Natalia Gontscharowa – zu dokumentieren, ist eines der Verdienste dieser Ausstellung.

Während die Hauptlinie des Kubismus eher durch zurückhaltende Verwendung der Farbwerte gekennzeichnet ist, finden sich.in Recklinghausen Beispiele für eine Verbindung nahezu expressiver Farbigkeit mit der geometrischen Formsprache, so etwa bei dem 1885 in Bordeaux geborenen André Lhote mit seinem plakativen Bild „Die Dirnen“ (1918) oder seiner Milieuszene „Im Hafen“ von 1912. Lhote ist überhaupt einer der interessantesten dieser Maler: Geradezu wahllos scheint er mit sämtlichen Stilen experimentiert zu haben.

Auffällig auch die „Aha-Effekte“, die Lust des Wiedererkennens. Jean Metzingers „Ballspielende Katze“ erinnert stark an Tierbilder von Franz Marc, André Lhotes „Saint Tropez“ an Landschaftsmotive von Cézanne, seine „Kubistische Landschaft“ (1919) stellt gar eine gewagte Mixtur aus impressionistischen und kubistischen Elementen dar, Jean Metzinger wiederum unternimmt kubistisch inspirierte Abestecher in den Surrealismus.

Natürlich stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Qualitätsfrage, was die Ausstellung übrigens gerade für den Besuch von Schulklassen empfehlenswert macht. Vielfach geraten die Stilformen wirr durcheinander, werden zu Stilbrüchen, zum Beispiel, wenn ein Frauenporträt in der oberen Hälfte streng geometrisch gestaltet ist, der Spitzenbesatz des Kleidausschnitts dann aber geradezu liebevoll im Detail wiedergegeben wird. Anderes wiederum scheint so stark von den berühmten Vorbildern beeinflußt zu sein, daß man von „Plagiatversuchen“ sprechen könnte, so bei der Spanierin Maria Blanchard, die sich ganz offensichtlich für Picasso begeisterte.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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