Wahrhaftige Nahansichten aus Europa – Historische Fotografien des Dortmunders Erich Grisar auf Zeche Zollern

Erich Grisar: Schuhputzer und Kunde in Barcelona. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

„Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa“ – schon beim bloßen Titel dieser Ausstellung klingelt es neuerdings wieder vernehmlich mahnend und vielleicht bedrohlich in den Ohren. In diesen Tagen hat „Europa“ wieder einen anderen Klang als noch vor kurzer Zeit.

Das LWL-Industriemuseum Zeche Zollern führt uns zurück in die Jahre 1928 bis 1933. Damals gab es große Hoffnungen auf einen engeren Zusammenschluss der Völker. Bald darauf wurden sie bitterlich zunichte. In jenen Jahren hat sich der Dortmunder Schriftsteller, Journalist und Fotograf Erich Grisar auf Reisen durch den Kontinent begeben und vor allem das zumeist entbehrungsreiche Alltagsleben der Menschen festgehalten – auf oft ganz erstaunlichen Fotografien, die so gar nicht „gestellt“ und gewollt, sondern (im Gegensatz zum damals weithin Üblichen) wunderbar spontan und wahrhaftig wirken.

Man merkt es den Bildern an, dass Grisar die verschiedensten Leute für sich und sein fotografisches Vorhaben einzunehmen wusste – von Kriegsversehrten in Flandern über Hafenarbeiter in Marseille bis hin zu Marktfrauen in Polen. Es scheint so, als hätte er sich ihnen allen in solch freundlicher Art genähert, dass sie sich und ihre oft ärmlichen Lebensumstände zeigten, wie sie eben wirklich waren. Daraus erwachsen zuweilen erschütternde, aber auch bezaubernde Momente.

Erich Grisar: Frauen und Kinder suchen verzweifelt nach brauchbarer Kohle – auf einer Schlackehalde in Mons/Charleroi (Belgien). (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

Seltsam, dass Erich Grisar auf sein fotografisches Können wohl selbst keine allzu großen Stücke gehalten hat. Er legte es vielmehr darauf an, sich als Schriftsteller und schreibender Journalist zu beweisen, u. a. war er für den legendären Dortmunder Generalanzeiger tätig, die Vorläufer-Zeitung der Westfälischen Rundschau und seinerzeit das auflagenstärkste deutsche Blatt außerhalb Berlins. Die Handhabung der Kamera war für den Autodidakten demgegenüber eher eine schöne Nebensache. Doch heute wird Grisar als Fotograf (mindestens) ebenso geschätzt wie als Autor.

Erich Grisar: Junge Frau mit Putzeimer in Amsterdam. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

2016/17 waren Grisars Bildern aus Dortmund und dem Ruhrgebiet vielbeachtete Ausstellungen in Essen (RuhrMuseum auf Zeche Zollverein) und just Dortmund (Zeche Zollern) gewidmet. Das hiesige Stadtarchiv verwahrt, wie die Kuratorin Andrea Zupancic berichtet, rund 4200 Grisar-Fotografien. Ein weiterer, noch nicht öffentlich gezeigter Schwerpunkt bezieht sich auf diverse Deutschland-Reisen.

Doch jetzt erst einmal Europa! 255 Aufnahmen sind zu sehen, selbstverständlich schwarzweiß und noch selbstverständlicher analog (vielleicht muss man es aber für Digital Natives allmählich betonen). Erich Grisar hat auch späterhin als touristisch verpönte Motive und Folklore nicht verschmäht, die damals freilich noch längst nicht so „verbraucht“ waren. Beispiele: Käsemarkt in Alkmaar, Markusplatz in Venedig, Stierkampf in Spanien. Doch selbst das sind Ansichten, wie sie sonst nur selten gelingen. Überdies haben sie den nachträglichen Charme, dass sie einen anderen historischen Zustand bekannter Plätze und Zonen erfassen. Es ist unverkennbar: Paris, Barcelona, London oder auch Warschau hatten damals ungleich mehr spezifisches, noch nicht global vereinnahmtes Flair.

Erich Grisar: Straßenszene in Paris. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

Vor allem aber hat der bekennende Sozialist und Pazifist Grisar sich dorthin aufgemacht, wo die Menschen lebten und litten, wo sie ihre täglichen Überlebenskämpfe führten, aber auch ihren kleinen Vergnügungen nachgingen. Hart kam ihn Flandern an, wo Grisar selbst furchtbare Schlachten des Ersten Weltkriegs mitgemacht hatte. Auch um einer „Bewältigung“ willen, hat er diese Stätten in den späten 20er Jahren erneut aufgesucht. Die Bilder von Soldatenfriedhöfen und Versehrten summieren sich zu einem großen „Nie wieder!“ Auch eine Kehrseite blieb Grisar nicht verborgen. So hat er bildlich dokumentiert, wie die traumatischen Erinnerungen schon damals als Schlachtfeld-Tourismus vermarktet wurden.

Vielfach bewegend sind seine Aufnahmen aus den ärmeren und ärmsten Vierteln der Metropolen. Und welche Kontraste! Da sieht man einerseits Quellen des Reichtums (Diamanthandel in Antwerpen), doch weitaus häufiger kläglich zerlumpte Gestalten, denen „das Leben“ (sprich: der Kapitalismus) übelst mitgespielt hat. Armut war damals viel offenkundiger und drastischer als heute.

Erich Grisar: Menschenansammlung in London, offenbar Zuhörer an „Speakers‘ Corner“. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

Zweierlei gibt es noch zur Fotoausstellung hinzu. Zum einen hat das ebenfalls auf Zeche Zollern ansässige, literarisch rührige Fritz-Hüser-Institut in den letzten Jahren fünf Notizbücher durch Europa geschickt, die von Menschen aus etlichen Ländern (darunter Armenien, seinerzeit im Kriegszustand) mit Eindrücken gefüllt wurden und schließlich wieder in Dortmund anlangten. Anstoß war Erich Grisars Gewohnheit, auf seinen Reisen ein solches Büchlein mit sich zu führen und bei allerlei Begegnungen Einträge zu sammeln – so etwa auch von Erich Kästner und Bert Brecht, der ein kurzes Gedicht beisteuerte. Auch dieses historische Originalbuch ist in der Ausstellung zu sehen, während die erwähnten fünf Gegenwarts-Exemplare unter dem Titel „Wanderbuch“ und dem Motto „To cross all frontiers“ in einen Online-Auftritt eingeflossen sind, der sich hier aufrufen lässt: www.wanderbuch.de

Schließlich haben Menschen „zwischen acht und 85 Jahren“ in der Dortmunder Nordstadt am flankierenden Projekt „Mein Europa“ mitgewirkt, das vor allem Migrationsgeschichten erzählt und dabei Dortmund als neue Heimat in den Blick nimmt. Erich Grisar hat, bevor er südwärts ins Kreuzviertel zog, gleichfalls einst im Dortmunder Norden gelebt. Man kann nicht wissen, wohl aber mit Fug annehmen, dass ihm der offenherzige Geist dieses Projektes zugesagt hätte.

Erich Grisar – Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa. 5. März bis 16. Oktober. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund, Grubenweg 5. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr.

zeche-zollern.lwl.org

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 56 times, 1 visit(s) today

Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
Dieser Beitrag wurde unter Fotografie, Geschichte, Literatur, Region Ruhr, Weite Welt abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert