Es ist Sommer. Ein Mann liegt träge am Strand, beobachtet seine spielenden Kinder und seinen alten Vater. Während die Hitze ihn schläfrig macht, lässt er sein Leben Revue passieren, denkt er an das unmerkliche Älterwerden, all die kleinen Veränderungen, die sich ständig ereignen, an das Leben, „das sich immer auf so vielen Ebenen abspielt, alles zur gleichen Zeit.“
Die Gedanken zerfließen, zerrinnen, sind nicht greifbar. Vielleicht ahnt er, dass gerade jetzt, während er mit seinen Kindern Ferien am Meer macht, seine Frau ihren Liebhaber in Berlin trifft und dabei nicht nur beglückende, sondern auch zutiefst beklemmende Erfahrungen macht.
Ein scharfer Cut. Die Perspektive wechselt, wir hören die freimütigen Bekenntnisse der Frau. Lauschen ihren Worten, mit denen sie den hemmungslosen Sex beschreibt, den sie mit ihrem Liebhaber hat, einem Journalisten und passionierten Amateurboxer. Ein großer, starker Mann mit einem emotionalen Handicap. Er kann es nicht ertragen, neben einer Frau einzuschlafen, sie die ganze Nacht in den Armen zu halten. Nach dem Liebesakt muss er das Bett verlassen und in seinem eigenen Bett zur Ruhe kommen. Seine Frau hat sich deshalb von ihm scheiden lassen. Die Liebhaberin, eine Jüdin aus New York, hat dafür Verständnis. Viel verstörender findet sie, dass der deutsche Mann ihr bei einem Spaziergang durch den Grunewald beichtet, er wäre damals bestimmt ein Nazi gewesen: „Ich bin genau der Typ, den sie für die Napola rekrutiert hätten“, sagt er mit Bezug auf die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, in denen die Nazis die Elite der starken und gehorsamen Jugend zu SS-Führern herangezüchtet haben. Dass er eine Schwäche für Ruhm und Ehre hat, lässt die Frau noch durchgehen. Aber dass der Mann glaubt, in ihm schlummere ein willfähriger Massenmörder? „Sie würde lieber glauben, dass der Mann, mit dem sie schläft, niemals, unter keinen Umständen, ein Nazi hätte sein können.“
„Ein Mann sein“, heißt diese verstörende Story, sie ist zugleich der Titel des Erzählbands, in dem die US-amerikanische Autorin Nicole Krauss vom Kampf der Geschlechter und den Zumutungen des Zusammenlebens berichtet. Immer geht es um das Wechselspiel von Macht und Sex, Liebe und Gewalt und den Versuch, die Landkarte der Beziehungen neu zu vermessen und zu beschriften. Einmal erzählt sie, wie eine aus New York nach Tel Aviv gereiste Frau in der Wohnung ihres verstorbenen Vaters einen fremden Mann antrifft. Er hat einen Schlüssel, geht hier ein und aus. Wer ist dieser Unbekannte und warum drängt er sich in den Leben der Frau, die irgendwann glaubt, in einem seltsamen Traum gefangen zu sein? Ein anderes Mal erinnert sie sich an eine Mitschülerin, die eine von Gewalt-Lust und Unterwerfungs-Fantasien dominierte Beziehung zu einem älteren, reichen Mann unterhielt. Was wohl aus ihr geworden ist? Und was mag aus dem jungen Mann geworden sein, in dessen Leben die Erzählerin hineinschlüpft: Viele Jahre war er der Sekretär eines bedeutenden Landschafts-Architekten in Südamerika. Hat erlebt, wie die Generäle der Junta ihn zwangen, in einem seiner prächtigen Parks unzählige Leichen zu verscharren. Warum hat der jüdische Architekt, der vor den Nazis aus Deutschland nach Südamerika geflohen war, das still ertragen und erduldet?
Ein rätselvolles, großes Buch einer großen Autorin.
Nicole Krauss: „Ein Mann sein.“ Storys. Aus dem Englischen von Grete Osterfeld. Rowohlt, Hamburg 2022, 256 Seiten, 24 Euro.