Heillos verknäult, filigran entwirrt: Donna Leons 31. Brunetti-Fall „Milde Gaben“

Langsam erwacht Venedig aus dem Tiefschlaf der Pandemie. Die Masken fallen, die Touristen strömen in die Lagunenstadt. In den Bars gönnt man sich einen Blick in die Zeitung, einen Espresso und ein süßes Teilchen, bevor es ins Büro geht. Auch einige Läden, die den Lockdown überstanden haben, öffnen ihre Pforten.

Doch während viele Gewerbetreibende aufgeben mussten, haben andere mit miesen Tricks große Profite gemacht, Scheingeschäfte eröffnet, um Corona-Hilfen abzugreifen. Im „Gazzettino“ kann Commissario Brunetti die ekligen Details über die Folgen der Pandemie nachlesen. Er hat genug Zeit zur Lektüre. Denn Mord und und Diebstahl haben auf das Virus reagiert und gehen gegen Null. Dass sich das schon bald ändern und sein kriminalistischer Spürsinn gefragt sein wird, ahnt Brunetti. Doch bis es so weit ist, lässt er seinen Gedanken freien Lauf, liest seine geliebten griechischen Klassiker und versucht seine Gattin Paola zu beruhigen. Die Spezialistin für englische Literatur ärgert sich darüber, dass an ihrer Universität eine junge Kollegin Karriere macht, die wissenschaftlich wenig leistet, aber die richtigen Kontakte hat und die alten Professoren um den Finger wickelt. Ist das Geplänkel über den Geschlechter-Krieg vielleicht ein erster Hinweis auf kommendes Unheil, dem sich der Commissario wird stellen müssen? Und warum will Tochter Chiara mehr wissen über die „Orestie“ und Klytämnestra, die sich betrogen, verraten und missachtet wähnt und zur blutrünstigen Rachefurie wird?

Donna Leon ist Meisterin der verwischten Spuren und falschen Fährten, des langen Anlaufs, der versteckten Andeutungen und des scheinbar Nebensächlichen, hinter dem sich ein Abgrund an Missgunst und Neid, Hass und Gier auftut. In ihrem neuen Roman „Milde Gaben“ spannt sie die Leser besonders lange auf die Folter. Wir sind bereits auf Seite 32, bis der aus pandemischer Melancholie mühsam erwachende Brunetti aus dem Mund einer ihn in der Questura aufsuchenden alten Bekannten einen Satz hört, der ihn aufhorchen lässt. Elisabetta Foscarini ist besorgt um ihre Tochter Flora, eine Tierärztin, verheiratet mit Enrico, einem Steuerberater und Buchprüfer. Nach einem Streit habe er „etwas gesagt, das sie das Schlimmste befürchten lässt.“ Was genau das sein soll, kann sie nicht benennen. Es dauert weitere 10 Seiten, bis Brunetti seiner Freundin aus verklärten Kindertagen einen Seufzer entlockt: „Ich fürchte, er tut etwas Schlechtes.“

Brunettis Jagdfieber ist geweckt. Aber wonach soll er suchen? Woher nimmt Elisabetta diese nebulösen Anschuldigungen, beruhen sie auf Einbildungen oder konkreten Fakten? Brunetti schart seine Mitarbeiter um sich, den leutseligen Inspektor Vianello, die hartnäckige Kommissarin Griffoni, Computer-Spezialistin Signorina Elettra, die noch jede Datenbank geknackt hat. Bald schon haben sie den Verdacht, dass sie von der sich – angeblich – um ihre Tochter sorgenden Mutter nur benutzt werden, um hinter die Fassade ehrbarer Dienstleistungen zu blicken und kriminelle Machenschaften und menschliche Verfehlungen ans Tageslicht zu fördern, die ihren Stolz und ihre Ehre verletzen, Betrug und Verrat, bei dem sie sich missachtet, ausgeschlossen und zurückgesetzt fühlt.

Brunetti begreift langsam, dass es nicht ums das geht, was gesagt wird und offen zutage liegt, sondern um das, was verschwiegen wird und sich nur dem offenbart, der zwischen den Zeilen zu lesen und Zeichen zu deuten vermag. Als wäre Donna Leon eine Wahlverwandte von Semantik-Deuter Umberto Eco, macht sie Brunetti zu einem Wiedergänger von Mönch William von Baskerville, der in der labyrinthischen Bibliothek eines mittelalterlichen Klosters nach einem verschollenen Buch über die subversive Kraft des Lachens und die Gründe für eine Mordserie fahndet.

Im Labyrinth von Venedigs Gassen und Kanälen findet Brunetti Menschen, die lügen und betrügen und bereit sind, sich selbst und andere zu zerstören. Brunetti folgt der Spur des Geldes. Sie führt ihn zu den „Milden Gaben“, die Elisabettas Ehemann, Bruno del Balzo, den Armen und Notdürftigen zukommen lässt…

Donna Leon weiß, wie man Erzähl-Fäden erst heillos verknäult und dann filigran wieder entwirrt. Ein Genuss, ihr bei der leichthändigen Arbeit am literarischen Fein-Gewebe zu folgen.

Donna Leon: „Milde Gaben“. Commissario Brunettis einunddreißigster Fall. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 344 S., 25 Euro. (Das Hörbuch, gelesen von Joachim Schönfeld, erschien gleichfalls bei Diogenes und kostet 18,95 Euro).

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