Emotionaler Ausnahmezustand: Grigory Sokolov in Köln – und bald in Gelsenkirchen

Grigory Sokolov braucht kein „Einspielstück“. Er ist sofort mittendrin. Die einstimmige Melodie zu Beginn von Schuberts Impromptus c-Moll (op. 90,1) spielt er zurückhaltend, tastend, als müsse sie sich ihrer selbst versichern. Dann, sobald sie ihre akkordische Verdichtung erfährt, formuliert er sie zunehmend selbstsicher. Ein zögernder Einwand, eine harmonisch klare Antwort in selbstbewusstem Forte.

Harmonische Erweiterungen, Schärfungen, Modulationen: Sokolov behandelt Schuberts verwickelte Wanderungen wie die Rhetorik einer nuancenreichen Sprache. Nichts ist dem Zufall überlassen, alles in einem dichten Geflecht aufeinander bezogen. Intellektuelle Höchstleistung korrespondiert mit sinnlicher Klarheit. Dieser Schubert sucht seinesgleichen.

Sokolov hat in der Kölner Philharmonie mit den vier Impromptus op. 90 (D 899), mit Schuberts drei Klavierstücken (D 946) und mit der „Hammerklaviersonate“ Ludwig van Beethovens ein denkbar schwieriges Programm in gewohnter Souveränität gemeistert. Wie das c-Moll-Impromptus aus seinen simplen Anfängen in bescheidene Zweistimmigkeit zurücksinkt, dazwischen aber ein riesiger Bogen zu schlagen ist, stellt manuell wenig Probleme, geistig aber umso anspruchsvollere Herausforderungen.

Franz Schubert. Lithografie des 19. Jahrhunderts

Franz Schubert. Lithografie des 19. Jahrhunderts

Auch das zweite in Es-Dur will in seinem Gegensatz von rauschender, brillanter Bewegung und dramatischer Zuspitzung bewältigt sein. Sokolov gelingt das eine so überzeugend wie das andere; er formuliert zu Beginn vollgriffig, in silbrigem Strahlen, ändert aber die Beleuchtung bald und führt das Thema in grandiosem Ton zu Ende. Man ist geneigt, an Franz Liszt zu denken – und in der Tat: Über Karl Czerny, der bis heute zu Unrecht als bloß äußerlicher Virtuose gilt – schlägt sich die Brücke von dem früh verstorbenen Wiener Genius zu dem zwischen Paris, Weimar, Rom und Bayreuth vagierenden Schöpfer des späten romantischen Virtuosentums. Sokolov lässt etwas von der Faszination solcher hexerischer Expression aufblitzen und ruft spontanen Beifall hervor.

Mag sein, dass ihm das dritte Impromptu in Ges-Dur am schönsten, innigsten gelingt: ein Gesang in erlesenem Legatissimo, schwärmerische Crescendi, die in leuchtende Piani zurücksinken, ein romantischer Puls im Rhythmus, eine magische Kunst des rubatogestützten Steigerns. Wie Sokolov die „einfache“ Linie in Bewegung hält, wie er – auch im As-Dur-Impromptus – die Melodie dynamisch vielfältig gestaltet fließen lässt, wie er den formenden Gedanken durch kantable Differenzierung gestaltet: Das würde man sich von so manchem Operndirigenten wünschen!

Sokolov sieht die sieben Klavierstücke als Folge – beim Beifall nach den vier Impromptus erhebt er sich nicht vom Flügel, sondern wartet angespannt, bis er mit den rollenden Triolen des „Allegro assai“ in es-Moll weitermachen kann. Sokolov treibt dieses Stück energisch an, schärft die Punktierungen schroff und schneidend, erinnert im rastlosen Tempo und der leuchtenden Akkordik ein weiteres Mal an Franz Liszt. Im zweiten Stück, in Es-Dur, betont er wieder das Sangliche; im dritten arbeitet er den Rhythmus in trockenem Anschlag aus. Drängend und heftig zupackend verwandelt er Schuberts romantische Anmutung in ein expressionistisches Charakterstück, das mit vollem Recht den ersten enthusiastischen Beifall der vollbesetzten Kölner Philharmonie entzündet.

Und noch einmal Franz Liszt: Er hat die „unspielbare“ Große Sonate für das Hammerklavier nach Beethovens Tod erstmals wieder gespielt. Und Sokolov erinnert daran, dass es in op. 106 nicht mit dem herrischen Fanfarenton des Beginns oder den pathetischen Rhythmen der Durchführung, nicht mit den grotesken Fortissimo-Oktaven des Scherzo oder den hämmernden, kontrapunktischen Sechzehntelläufen des Finalsatzes getan ist. Sondern er zeigt mit seinem Sensus für die Poesie des Beginns, für das Zarte und Leise, wie Beethoven in diesem Sonaten-Ungetüm mit Kontrasten, mit musikalischen Schattenwelten ebenso arbeitet wie mit dem virtuosen Gipfelsturm.

Sokolov artikuliert heftig und kraftvoll, aber noch bewundernswerter ist, wie er im Adagio durch klugen Pedaleinsatz den Zusammenhang wahrt, wie er das langsame Tempo ausfüllt durch einen unendlichen Atem, wie er aber auch Figurationen herb anschlagen und damit aus einer Sphäre wohliger Piano-Wattierung lösen kann. Denn dieses Adagio gewinnt seine schmerzliche Intensität nicht durch Klavier-Belcanto, sondern durch eine extreme Innenspannung, die Sokolov in einer geradezu anti-romantischen Klarheit fördert. Der Beifall war riesig und ließ erst nach einer halben Stunde und sechs Zugaben erschöpft nach. Auf Sokolovs Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr am 9. Juli in Gelsenkirchen – übrigens mit dem gleichen Programm – darf man sich jetzt schon freuen.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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