Die zerstörerische Kraft der Familie: Delphine de Vigans Roman „Das Lächeln meiner Mutter“


viganMutterManchmal kann ein Mensch nicht unbegrenzt viel Leid ertragen. Manchmal steht der Nacht eben nichts entgegen. * Um diese Wahrheit, die auszusprechen oft genug noch mit einem Tabu belegt ist, dreht sich ein außergewöhnlicher Roman der Französin Delphine de Vigan. In ihrem Buch „Das Lächeln meiner Mutter“ erzählt sie retrospektiv das Leben ihrer Mutter Lucile. Nach deren Suizid ist dies ihr Weg, diesen zu verarbeiten.

Lucile Poirier wurde 1946 als drittes Kind in eine Familie von neun Geschwistern geboren, von denen drei früh verstarben. Ihre Kindheit ist für de Vigan eine ferne, ungreifbare Zeit. Tonband- und Tagebuchaufzeichnungen der Großeltern sowie Erzählungen der noch lebenden Geschwister helfen ihr, ein Bild jener Zeit zu entwerfen. So entsteht nach und nach das Gemälde einer lärmenden, faszinierenden Großfamilie, die sich an lichtdurchfluteten Sommertagen zu großen fröhlichen Treffen auf dem Lande versammelt. Einer Familie, die jedoch auch gezeichnet ist durch den „Nachhall der Toten und des Widerhalls des Unglücks“; einer Familie, die sich durch ihre demonstrativ zur Schau getragene Einigkeit die für sie wichtige Bewunderung Anderer zu sichern versteht.

Der Flirt mit dem Wahnsinn

Der Widerspruch zwischen Luciles frühem Erfolg als Fotomodell und den Tragödien, die das Familienleben überschatten – der frühe Tod der Geschwister, nie geklärte Inzest-und Missbrauchsvorwürfe, auf jeden Fall aber „die zerstörerische Kraft der Worte und des Schweigens“ – erschweren Luciles Weg in ein erwachsenes, selbstbestimmtes Leben. Früh flirtet sie mit dem Wahnsinn, doch der Weg zur Hölle ist zunächst sanft. Später gleitet sie immer öfter in Psychosen ab. Sie glaubt, das gesamte Pariser Verkehrssystem zu kontrollieren, korrespondiert mit Monet und Kant und wird schließlich zur Gefahr für ihre eigenen Töchter.

Ihr Leben lang wird Lucile ein fragiler Mensch bleiben, der zu zerbrechen droht. Erst spät findet sie einen Weg, ihr Leben zu leben, ihre glücklichste Zeit ist später die mit den Enkelkindern, doch dann muß sie einen neuen Kampf aufnehmen. Den Kampf gegen Krebs, für den sie keine Kraft mehr aufbringen kann. Denn nicht jeder Mensch kann sich dem Leid unbegrenzt entgegen stemmen.

Die zerstörerische Kraft der Familie wirkt über Generationen hinweg, doch das Haus der Großeltern auf dem Land bleibt unverändert Familienmittelpunkt. Dort auf dem Land, in Pierremont, wurde auch das Foto aufgenommen, das Delphine de Vigan als Coverfoto für ihr Buch ausgewählt hat. Ein Foto, auf dem man Lucile so sieht, wie sie war. Wunderschön, aber von geheimnisvoller Traurigkeit, schon von Schwarz umgeben.

Auf vermintem Gelände

Die literarische Aufarbeitung einer Mutter-Tochter-Beziehung ist an sich nicht neu, das schreibt Delphine de Vigan selbst zu Beginn des Romans. Ihr ist klar, wie abgegriffen das Thema ist, wie vermint das Gelände, auf dem sie sich unsicher bewegt. Passend bedient sich der Pressetext zum Buch des berühmten Titels von Angelika Schrobsdorff „Du bist nicht so wie andere Mütter“. In der Tat haben diese Bücher einiges gemein. die schonungslose Offenheit, die um Verständnis ringende Zärtlichkeit, das Annehmen erlittener Kränkungen, Doch der Roman von Delphine de Vigan ist verstörender, das Leid der Mutter unverständlicher, fremder.

De Vigan pendelt zwischen zwei Ansätzen. Sie erzählt die Geschichte der Mutter, eingebettet in die Familienchronik – und sie berichtet von sich selbst. Von ihrer Suche, den Schwierigkeiten, dieses Buch zu schreiben. Vor allem aber von ihrer Zerrissenheit ob der eigenen Verstrickung, von ihrer Angst, die vorsichtige Annäherung könne letzten Endes zur Entfremdung führen. Für die noch lebenden Geschwister Luciles und für de Vigans eigene Schwester Manon ist es nicht immer leicht, sich der Autorin zu öffnen und ihr zu helfen, Dokumente zusammentragen. Zumal einige von ihnen längst beschlossen hatten, nur das Helle zu behalten und das Böse wegzuschließen. Delphine de Vigan weiß, dass ihr diese Erinnerungen zum Geschenk gemacht werden. Umso größer ist die Angst, letzten Endes mit dem Schreiben dieses Buches die Familie zu verraten. Doch trotz dieser Angst vermag sie es nicht, das Buch nicht zu schreiben. Es ist wie ein Zwang. Dennoch kann sie die Zeit nicht erwarten, in der sie von diesem Buch hier erlöst sein wird.

Die Büchse der Pandora

Jeder wird sich diesem Buch anders nähern, doch nur wenige werden dem Sog widerstehen können. Zu vertraut sind die Geschichten, die Dramen. Die einen werden von der Geschichte Luciles tief berührt und mitgenommen sein, die anderen eher von dem Kampf, den die Tochter mit sich selbst um dieses Buch führt. Wieder anderen wird die entstehende Nähe zu nah, der Voyeurismus, den man unwillkürlich empfindet, zu beschämend sein. Aber alle werden auch einen Trost aus diesem Buch mitnehmen können. De Vigan erzählt ohne Pathos, ohne Stilisierung des Elends. Am Ende wird das Buch auch eine Hymne auf die Widerstandskraft sein. In ihrem Abschiedsbrief schreibt Lucile, dass sie lebendig sterben wollte. Indem die Autorin die Worte der Mutter wortwörtlich nimmt, kommt sie zu ihrem ersehnten Verständnis der Mutter.

Sie kann nun hinter den Psychosen der Mutter wieder eine Frau sehen, die eine ungewöhnliche Anziehungskraft ausübte. Lucile war eine Frau von großer Ernsthaftigkeit, aber auch mit einem Hang zum zärtlichen Humor. Einem Humor, den man auch im Buch erkennen kann und der gerade in den dramatischsten Episoden des Buches unterstreicht, was die Autorin von der Mutter geerbt hat. Die Eleganz und die Fähigkeit, Schmerz mit dem Prosaischen zu vermischen, Wesentliches mit Anekdotischen. Die Fähigkeit, Lächerliches und Triviales zu nutzen, um sich über die Verwirrung zu erheben. Denn Weinen kann man immer noch. Genau das ist es, was dieses Buch trägt und was es der Autorin ermöglicht hat, ihre Büchse der Pandora zu öffnen. Gleich einer antiken Tragödie öffnete sie diese in drei Akten und gleich vielen antiken Tragödien ist „Das Lächeln meiner Mutter“ nicht nur traurig, es ist auch belebend und Mut machend.

Die Toten ruhen lassen

Einen großen Trost nimmt der Leser aus der Liebeserklärung mit, die Luciles Enkel ihr nach ihrem Tod machen. Die Enkel räumen die Wohnung von Grand-Mère Lucile und bringen aus der Wohnanlage das Schild „Rasen betreten“ mit – weil Lucile es immer klauen wollte, aber nicht mehr geschafft hat. Eine traurig-schöne Geste, die zeigt, dass die Familie nach vorne blicken kann, die Toten ruhen lassen und die Schmerzen begraben kann.

Delphine de Vigan lebt mit ihren Kindern in Paris und arbeitet neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit in einem soziologischen Forschungsinstitut. „Das Lächeln meiner Mutter“ war in Frankreich ein unerwartet großer Erfolg. Bereits vorher hatte die Autorin sich mit autobiografisch geprägten Romanen einen Namen gemacht. So mit dem Buch „Jours sans faim“ (Tage ohne Hunger), einem Buch über ihre Magersucht.

Delphine de Vigan: „Das Lächeln meiner Mutter“. Droemer Verlag. Aus dem Französischen von Doris Heinemann, 381 Seiten, € 19,99.

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* Der Originaltitel  des Romans lautet „Rien ne s’oppose à la nuit“ (Nichts stellt sich der Nacht entgegen) und ist dem Song „Osez Joséphine“ von Alain Bashung und Jean Fauques entnommen.

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