Ein Leseeindruck, was sonst? (Peter Handkes Erzählung „Der Große Fall“)

Nein, eine Rezension wird das nicht. Handkes Erzählung „Der Große Fall“ habe ich in der letzten Woche nicht in der Absicht gelesen, darüber hier eine Rezension zu schreiben. Um eine Rezension zu schreiben, müsste ich das Ganze mindestens noch einmal lesen. – Nicht aber sofort und nicht sehr bald. Mit dieser Erzählung bin ich nach der Lektüre ohnehin noch nicht zu Ende. Sie arbeitet noch weiter in mir.

Heute will es mir scheinen, als hätte da einer geträumt, er sei ein alt gewordener, recht bekannter Schauspieler und hätte als dieser Schauspieler diese Geschichte eines einzigen irgendwie spätzeitlichen Sommertages so geträumt, als hätte er sie wirklich erlebt. Und es will mir scheinen, als hätte dieser Träumende, diese Rollenfigur des Autors, objektivierend, besser: gestalterisch pseudoobjektivierend, von der Ich-Form des Traums in die Er-Form der abschließend gültigen Erzählung gewechselt. Läge der Erzählung derart wasserzeichenhaft tatsächlich oder auch nur suggestiv ein Traum zu Grunde, würde sich der erzählerische Doppelcharakter, dieses Ineinander von Präzison und Unbestimmtheit leichter erklären lassen. Unverkennbare Realitätspartikel, aber auch phantastisch ungreifbare Elemente bekämen da, ebenso wie das Vermutete und das Unvermutete im Geschehen, ihren jeweils traumlogischen Ort. Auch die schon im Titel – wie danach auch gleich noch im Erzähleingang – herausgestellte Hauptsache des „Großen Falls“ und die damit nahegelegte Frage, was es denn mit dem (am Anfang als schon erfolgt angekündigten und am Ende der Geschichte offenbar tatsächlich erfolgenden, sich irgendwie ereignenden) „Großen Fall“ für eine genauere Bewandtnis habe, erhält jeweils eine gewisse traumlogische Plausibilität. Dass – zumal am Ende eines Traums – das benennbar Ereignishafte und eine merkwürdige Unbestimmtheit und Vagheit zusammenkommen, ist in Träumen keineswegs selten. Aber auch innerliterarisch wird man an die vergleichbare Unbestimmtheit etwa von Samuel Becketts „Godot“ und an die gerade aus dieser Unbestimmtheit resultierenden, z. T. maßlosen Deutungsverlockungen erinnern dürfen.

Bereits der erste Satz der Erzählung suggeriert eine abgeschlossene Handlung, von der der unbestimmt namenlos bleibende Er-Erzähler, von Beginn des einen Tages an bis zu seinem Ende so erzählt, als wäre auch dieser Tag zum Zeitpunkt des Erzählens (wann?) schon eine ganze Zeit lang vergangen. Umso beunruhigender, ja verstörender, dass nirgends ganz genau gesagt wird, worin denn „Der Große Fall“, der schließlich zielgenau am Ende steht oder sich am Ende irgendwie ergibt, genau besteht. Anklänge, Assoziationen im Verlauf gibt es en masse, wenn auch nicht durchweg eingängig-einheitlich. Eine plumpe Festlegung auf ein in Eindeutigkeit Gemeintes scheint durchweg verhindert werden zu sollen. Betrifft der „Große Fall“ eine ganz bestimmte (kleinere oder größere?) Gruppe von Lebewesen eines bestimmten Landes, eines bestimmten Kontinentes oder aller Kontinente? Oder nur diese eine Person, dieses eine Individuum?

Doch auch in einem solchen Falle könnte der „FALL“ textübergreifend ein exemplarischer sein. Ich erinnere mich in Vergleichsabsicht an vorausgegangene Werke anderer Autoren: Der junge (!) Kaufmannssohn in Hugo von Hofmannsthals „Das Märchen 672. Nacht“ z. B. geht eines Tages in einer bestimmten Absicht von seinem abgelegenen Sommersitz samt Garten weg in die große Stadt und ENDET – wie zielstrebig am Ende – unter den Hufen eines ihn schlagartig tötenden Pferdes.

Ein Theaterstück wie Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende“ oder ein Roman wie Balzacs „César Birotteaus Größe und Niedergang“ beschreibt sogar schon im Titel eine bestimmte Verlaufsform.

Handke nun meint seinen Erzählungstitel zwar einerseits ähnlich ernst wie die beiden zuletzt genannten Vorgänger ihre literarischen Titel – , spielt aber andererseits wiederholt nuancenreich damit, als wäre zusätzlich und vorsätzlich ein gewisser Unernst mit im Spiel, als wäre es ihm passagenweise doch nicht so ganz ernst mit dem „Großen Fall“ in seiner ganzen „Größe“. Reines (wie auch immer moderiert entfaltetes) Untergangsszenario in einer spätzeitlichen, abendlich gewordenen Welt? Wirklich?

Am deutlichsten wird das SPIELEN mit dem „Fall“ gegen Schluss auf Seite 275. Und ich darf ausnahmsweise zitieren: „“Fall‘ ich in den Graben, retten mich die Raben“: Auch das sang er fast:“ – Wie viele (vorwiegend österreichische?) Kinder haben dieses Lied, das in einen bloß gespielten, insofern nicht ganz ernsten, meist jauchzend (mit dem Gefühl, es hätte ernst sein können) hingenommenen „Fall“ mündet, gesungen bzw. während des Pseudo-Fallens, des Fallens ohne wirklichen Sturz, lauthals mitgesungen und dann scheppernd gelacht? Jedoch: Hieß das im Kinderlied nicht so: „Hoppe, hoppe, Reiter! Wenn er (!) fällt, dann schreit er (!). Fällt er (!) in den Graben, fressen ihn (!) die Raben.“?

Und siehe da, in Handkes Erzähltext wird die 3. Person Singular des Liedes durch die 1. Person Singular ersetzt, so wie sich jedes Kind einmal spielerisch mit dem Reiter identifiziert hat, was gleichzeitig aber auch meine eigene These eines grundlegenden, umgekehrten Wechsels vom Traum-Ich ins Erzähl-Er in der von Handke vordringlich traumlogisch geschriebenen Erzählung noch etwas plausibler erscheinen lässt.

In einem Traum kommt unwillkürlich so einiges zusammen, Tagesreste oder – wie hier – auch Traditionsreste, ggf. auch in Variationen und Umkehrungen. So bin ich von meiner Ausgangsthese her auch nicht überrascht, wie von ungefähr, Heterogenstes in aufeinander folgenden Episoden – in Abständen hintereinander und gedanklich motivlich gleichsam nebeneinander – vorzufinden. Vieles davon lädt, sofern vorschnell vorrangig behandelt, zu einer monokausal einsinnigen Deutung des Ganzen ein, oder scheint zumindest, dazu einzuladen, und griffe doch, sofern vorschnell als einziger Schlüssel genommen, ziemlich sicher fehl.

Zwei, drei Beispiele nur für Handkes erzählerischen Umgang mit Überliefertem:

Auf Seite 233 wie nebenbei eines der Sieben Worte Jesu am Kreuz; hier bezugslos und zweckentfremdet in einen anderen Zusammenhang versetzt: „Vater, warum hast du mich verlassen?“ –

Auf Seite 137f. fühlt man sich plötzlich, ebenfalls abgewandelt, versetzt in Joseph Roths „Legende vom heiligen Trinker“, wenn der Schauspieler plötzlich im fremden Land einen Fremden als einen ehemals Bekannten, als „einen guten Freund“ bzw. „fast einen Freund“ erkennt, sich selbst aber leutscheu nicht zu erkennen gibt, obwohl dieser der erste an diesem Tage ist, den er unter den vielen ihm Begegnenden beim Vornamen nennen könnte. „Andreas!“ – könnte er ausrufen, so wie es bei Joseph Roth geschieht, aber hier nicht.

Auf Seite 248 ff. begegnet er (nur beobachtend und selber allem Anschein nach ungesehen und damit unerkannt bleibend) jenem Gesicht eines Menschen, auf das er offenbar nicht nur diesen ganzen Tag über gewartet hatte, ohne es, obwohl er es bereits früher oft genug und noch ganz vor kurzem sogar in der Nähe gesehen hat, wirklich als dieses eine Erwartete wahrgenommen zu haben. Von hier an wäre ein anderer Schluss des Ganzen vorstellbar. Traumlogisch sowie in der Logik des auch im Affektiven nüchternen Ganzen wohl aber nicht. Die Geschichte geht, da intellektuell redlich, anders weiter. –

Festzuhalten bleibt dennoch, dass es beinah eine merkwürdige Form von Flaschenpost gegeben hätte, die den in der Geschichte so nahe- wie ferngerückten „Fall“ fast überdauert hätte und es in Form der Erzählung ja auch tut. Es handelt sich um einen Brief, den der Schauspieler auf unmoderne, wiewohl nostalgisch angeblich wieder modisch gewordene Weise als „Vater“ noch am Abend dieses letzten (?) Tages an seinen wie verschollen fernen, ihm fremd gewordenen und fremdgebliebenen Sohn geschrieben (?) hat und gerne abgeschickt hätte, ohne indessen eine genaue feste Adresse zu kennen. Ob den Sohn dieser Brief jemals erreicht hätte, bleibt fraglich, ist (durchaus vergleichbar mit entfernt Ähnlichem in Kafkas „kaiserlicher Botschaft“) sogar mehr als fraglich. Ob der Sohn noch lebt (?) … und wo (?) … wohl auch. Immerhin: der annähernde Wortlaut des Briefes wird auf der Seite 244 mitgeteilt. Wie in einer Art Umkehrung von Kafkas Erzählung „Das Urteil“ erwartet hier der Vater das „Urteil“ des Sohnes. (a.a.O., S.245) –

PS 1: Einzelne Episoden dieser (durchaus interessanten, mich aber insgesamt keineswegs begeisternden) Erzählung haben eine eigenständige Kraft, sind sehr gut isolierbar. So zum Beispiel die zusammenhängende, eindringliche Passage der Seiten 156 (ab Z.17) bis 158 (Z.2). Hier würde man fündig, suchte man einen unaufgemotzt stillen Text für eine Abiturprüfung oder für das Projekt einer Anthologie von Endzeittexten.

PS 2: Bestätigte Ausgangsthese als Fazit: Handkes Erzählung gibt sich keineswegs als Traum, folgt aber über weite Strecken einer Traumlogik, die die variierende Einbettung von Traditions- wie Tagesresten gestattet und hierdurch und des weiteren alles in der Erzählung Vorkommende plausibel erscheinen lässt und den Autor – zumindest für dieses Mal – unangreifbar macht.

PS 3: Vom seniorenfreundlichen Druckbild her ist der Text gut lesbar. Auch sprachlich. Von der Gestaltung des Schutzumschlages und der Buchdeckel her wirkt das Buch wie der Eröffnungsband aus dem fiktiven Verlag der Grauen Panther. Aber „altvattrisch“, wie Österreicher manchmal zu sagen pflegen, sind Formung und Inhalt des Buches durchaus nicht.

Peter Handke: „Der Große Fall“. Erzählung. Suhrkamp Verlag, 278 Seiten, 24,90 Euro.

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4 Antworten zu Ein Leseeindruck, was sonst? (Peter Handkes Erzählung „Der Große Fall“)

  1. Ich sehe das Gesicht von Handke
    vor meinen Augen.

  2. Bisherige Reaktionen auf den Artikel, wie sie inzwischen bei Facebook zu finden sind:

    Bernd Huber: „Ich habe ihn gelesen. wer ihn nicht mag, ist selber schuld. Handke versteht es ganz ausgezeichnet aus einer umsponnenen Geschichte die Essenz zu gewinnen. Außerdem ist er in der Sprache zu Hause wie kaum ein anderer…Ich mag das…fast so wie meinen Franzosen…“
    Bernd Huber: „und noch eine Gemeinsamkeit zwischen dem „Fall“ von Camus und dem „großen Fall“ von Handke, bezogen auf Seite 223, beide beackern das Zitat „Vater, warum hast du mich verlassen“. Sehr interessant auch, dass der Fall bei Handke an einem Tag spielt, während Camus den Fall mitten im Leben seines Protagonisten beginnen lässt um ihn dann in Amsterdam auf unglaubliche Weise enden zu lassen…“
    Günter Landsberger: „An Albert Camus‘ „La Chute“ („Der Fall“; bzw. Sturz, Absturz; Einsturz) habe ich natürlich auch gleich gedacht, sogar an die Bedeutung, die dieses Camus-Buch in bestimmten Texten Roberto Bolanos (mit Tilde über dem „n“) hat. Ebenso an das von mir sehr geschätzte Buch „Die Ahnung“ („Le Pressentiment“) des von Handke hochgeschätzten Emmanuel Bove. – Ob Handke auch ein Gegenbuch zu Martin Walsers „Der Sturz“ geschrieben hat, weiß ich nicht, weil ich den Walser-Roman (noch) nicht gelesen habe.“

  3. Hier ggf. zur Kontrastierung noch ein themenverwandtes Gedicht von Georg Heym:

    Der Tod des Schauspielers

    Der viele Leben in sich schloss, der heute
    Ein König sich in hohem Purpur trug,
    Und morgen mit der Narrenpeitsche schlug,
    Der lachte, weinte, wie ein Gott die Beute

    Der Stunde ganz, die wandelt sein Gesicht,
    – Was ist mit ihm? Was spielt er da? Er kniet,
    Er stammelt töricht, und sein Lachen flieht.
    Was wird sein Haupt so weiß im Lampenlicht?

    Er soll doch lachen? Doch er stockt und staunt.
    Er zittert ja. Er hat das Wort verloren.
    Er dreht den Kopf umher und spitzt die Ohren.
    Was hört er denn? Was wird ihm zugeraunt?

    Und grauenvolle Stille wandert um.
    Man hört der Frauen Atem gehn, den Schrecken
    Die Finger nach den bloßen Schultern strecken,
    Kaum hörbar knacken, durch das Grauen stumm.

    Da – fällt er hin. Um seinen Schlund geballt
    Erscheint ein Griff von einer großen Hand.
    – Sie drückte kurz ihn zu und sie verschwand –
    Er aber liegt, die Hände tief gekrallt

    In einem Teppich. Und das Licht geht aus.
    Wahnsinn des Schweigens. Doch der Vorhang weht
    Um einen Schatten, der im Dunkel steht
    Und von der schwarzen Bühne starrt ins Haus.

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