Kafkas Ängste sind noch wach

Klingt nach unerbittlichem Anspruch: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer ins uns.” Den Satz hat Franz Kafka geschrieben. War der Schriftsteller, der am 3. Juli vor 125 Jahren in Prag geboren wurde, nur schwierig und lebensfern? Aber warum wird er bis heute weltweit gelesen und zitiert? Warum wirkt er so zeitlos wie sonst wohl keiner aus seiner Epoche?

Probleme und Personal eines Thomas Mann scheinen uns vergleichsweise weit entrückt, sie betreffen in erster Linie das Bürgertum von damals. Kafka (1883-1924) hingegen hat, wie niemand zuvor und niemand seither, die anonymen, ungreifbaren Mächte im modernen Leben beschrieben. Wahrlich: Die Lektüre seiner Romane „Das Schloß” und „Der Prozeß” oder einer Erzählung wie „Die Verwandlung” (deren Hauptfigur Gregor Samsa sich in einen Käfer verwandelt) kann Alpträume nach sich ziehen. Die Ängste vor einer „kafkaesken” Welt haben sich keineswegs erledigt.

Die Rätsel wurzeln
in der Wirklichkeit

Man zieht sein Werk nicht ins Profane hinab, wenn man feststellt: Manches in Politik und Wirtschaft trägt jene surrealen Merkmale, die Kafka beschworen hat: allfällige Tendenzen zur Überwachung, das Mysterium gewisser Weltmarktpreise, das Gefühl des Ausgeliefertseins an namenlose Mechanismen. Von den Zuständen in Diktaturen jeder Sorte ganz zu schweigen. Kafka hat solche globalen Grundmuster gültig gezeichnet. Aber es ist in jeder Faser pure Literatur, niemals politische Stellungnahme.

Seine Texte sind bewusst rätselhaft und mehrdeutig gehalten, doch sie wurzeln in wirklichen Verhältnissen. Überaus klar ist zudem Kafkas Sprache. Von allem Zierat befreit, ruft sie in raffinierter Einfachheit den ewigen Schrecken des Menschen auf, hilf- und schutzlos zu bleiben, die ungeheuerliche Welt nicht mehr zu begreifen. „Einer muß wachen. Einer muß da sein”, heißt noch so ein markantes Zitat des Mannes, der in einsamen Nächten so besessen geschrieben hat, als hätte er geahnt, dass er mit 40 Jahren an den Folgen einer Tuberkulose sterben würde.

Der Alltag war Kafka nicht fremd. Täglich von 8 bis 14 Uhr arbeitete der Jurist bei einer halbstaatlichen Unfallversicherung und setzte sich für gesundere Arbeitsbedingungen in den Fabriken ein.

Das Leiden unter
dem Brotberuf

Unter dem Brotberuf, der ihn am Schreiben hinderte, hat er freilich arg gelitten: „Vielleicht werde ich von den Fingerspitzen aufwärts allmählich zu Holz”, schrieb er verzweifelt. Erst die „letzte Arbeitsminute” sei das „Sprungbrett der Lustigkeit”. Denkbar, dass der eine oder andere Bürojobber diesen Ausspruch nachvollziehen kann. Auch einen lakonischen Lieblingsspruch aller Cineasten hat Kafka formuliert: „Im Kino gewesen. Geweint.” Mehr muss man häufig nicht sagen.

Keiner kann wissen, „wie es sich angefühlt hat, Kafka zu sein”. Das hat sein Biograph Reiner Stach, der sich seit vielen, vielen Jahren eingehend mit dem Autor befasst, jüngst wieder betont. Man mag noch so viele Details über Kafkas notorische Entschlussschwäche, sein asketisches, kränkelndes Dasein, sein prekäres Verhältnis zum Vater oder seinen offenbar neurotischen Umgang mit Frauen zutage fördern: All das besagt recht wenig für die Deutung des Werks. Auch hilft es nichts zu erfahren, dass dieser Kafka zuweilen auch herzlich albern sein konnte. Ja, und?

Geradezu bizarr mutet an, das in einem neuen Buch rund 30 Seiten der läppischen Frage gewidmet werden, wie Kafkas Weg ins Büro ausgesehen hat. Wohlgemerkt: Hin- und Rückweg werden dabei gesondert abgehandelt. Sonderbare Auswüchse.

Ungeklärt ist auch Kafkas Blick auf die Nachwelt. Seinem Freund Max Brod hatte er aufgetragen, all seine Manuskripte zu vernichten. Brod hat sich gottlob nicht daran gehalten. Genau das habe Kafka geahnt, heißt es.

INFOS:

Franz Kafkas Werke liegen im S. Fischer Verlag vor.

Biographien:

Reiner Stach: „Kafka. Die Jahre der Erkenntnis” (S. Fischer Verlag, 729 S., 29,90 €). Der erste Band „Die Jahre der Entscheidungen” erschien 2002.

Louis Begley: „Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe” (DVA, 335 S., 19,95 €).

Klaus Wagenbach: „Franz Kafka.” (Wagenbach Verlag, 256 S., 39 €).

Hartmut Binder: „Kafkas Welt” (Rowohlt Verlag, 688 S., 68 €).

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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