Verlorene Illusionen: Die gar nicht mehr so wunderbaren Reisen der Sibylle Berg

Sibylle Berg kennt man als Dramatikerin, Autorin und polarisierende Kolumnistin. Einem breiten Publikum weniger bekannt hingegen sind ihre Reisereportagen. Das könnte sich jetzt ändern. Unter dem nicht so ganz zutreffenden Titel „Wunderbare Jahre – als wir noch die Welt bereisten“ ist eine Sammlung von Erlebnisberichten der vielgereisten Frau Berg erschienen.

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Der Klappentext verspricht uns Erzählungen aus einer schönen, abenteuerlichen, romantischen Welt. Wer Sibylle Bergs Werke auch nur ein bisschen kennt, kann sich allerdings schon denken, was er direkt in der Einleitung erfährt: Wer sich auf der Couch fein eingekuschelt gerne in nostalgischen Gefühlen ergehen möchte, der schaue sich lieber wunderschöne Rucksack-Dokus auf Kultursendern an.

Krisen- und Erregungsgebiete

Die Reportagen aus Sibylle Bergs „wunderbaren Jahren“ zeigen hingegen: Der Terror war immer schon da, angstfrei reisen konnte man nie. Die Berichte erzählen aus Krisengebieten wie dem Kosovo in den Neunzigern, aus Erregungsgebieten wie Cannes zur Festival-Zeit, von ganz persönlichen Erfahrungen in Herzensstädten der Autorin oder auch ganz profan von der Langeweile als Passagierin auf einem Frachtschiff.

Doch eines war anders damals: Damals, das war die Welt, als man noch Fernweh hatte und verklärungsbereit war. Die wunderbaren Jahre waren deshalb wunderbar, weil man noch Hoffnung hatte.

Das Meer ist nur noch Wasser

Nun setzt die Desillusionierung ein. Wenn man Meer nicht mehr als Meer, sondern einfach nur als Wasser sieht, trauert man um die Zeit, in der alles aufregend war. Leben nutzt sich eben ab. So einfach, aber auch wesentlich zugleich sind manche Erkenntnisse, die Sibylle Berg in diesen Berichten vermittelt. Den Gegensatz zwischen der einstmals hoffnungsfroh zu einer Reise aufbrechenden Autorin, die noch glaubte, die Welt verbessern zu können und der heute fast komplett desillusionierten Kolumnisten wird vor allem durch die Nachsätze herausgearbeitet, die auf jeden ihrer Reiseberichte folgen und die in kurzen, knappen, sehr sachlichen Sätzen den heutigen Zustand des jeweiligen Reiseziels beschreiben.

Der erste und der zweite Blick

Sibylle Berg kann sehr elegant formulieren, ihre manchmal genial bösen Spitzen erkennt man oft erst auf den zweiten Blick. Vermutlich ist dies mit ein Grund dafür, dass sie oft polarisiert. Die einen nicken auf den ersten Blick und merken erst auf den zweiten, dass sie ertappt worden sind. Die anderen sind beim ersten Blick irritiert, nicken dann aber beim zweiten. Auch in ihren Reisereportagen ist die präzise Beobachterin Berg gewohnt gnadenlos ehrlich, sie geht aber auch mit sich selbst und ihrem einstigen Blick auf die Welt schonungslos ins Gericht.

Arroganz nur bei Bedarf

Auch der Tonfall ist nicht durchgehend so, wie man ihn von der gern überspitzenden Kolumnistin kennt. Ihre oft beanstandete Selbstgerechtigkeit hat sie in diesen Berichten jedenfalls außen vor gelassen und die ihr nachgesagte Arroganz lebt nur auf, wenn sie gebraucht wird – um dem Leser und dem Reisenden, also auch sich selbst den Spiegel vorzuhalten. Vor allem an der sich selbst tätschelnden Wohlstandsgesellschaft arbeitet sie sich böse ab, der Bericht über Cannes kriegt zur Strafe für soviel glitzernden Glamour nicht einmal eine der begleitenden Illustrationen der ausgezeichneten Comic-Zeichnerin Isabel Kreitz. Da sind die kleinen Lästereien, die sich ab und an gönnt (wie etwa im Bericht über London am Tag der Königskindeskinder-Hochzeit) nachgerade erholsam.

Sibylle Berg: „Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten“. Carl Hanser Verlag, München. 186 Seiten, €18,50.

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