Die Weisheit passt in wenige Worte – Hattingen als Zentrum für Aphorismen: Autorentreffen und neues Archiv

Von Bernd Berke

Hattingen. Kleine Kunstform, großer Aha-Effekt. Auf solche Wirkungen zielen Aphorismen ab. Im Idealfalle sind es geistreich zugespitzte Weisheiten in wenigen geschliffenen Worten. Irgendwie passend, dass eine kleinere Stadt sich anschickt, zum Zentrum der knappen Sinnsprüche zu werden: Hattingen hat’s mit Kürze und Würze.

Schon zum zweiten Mal (nach 2004) treffen sich jetzt deutschsprachige Aphoristiker in der Ruhrstadt. Zudem wird heute im Hattinger Stadtmuseum ein Aphorismen-Archiv eröffnet. Es soll mit der Zeit wachsen. Kulturamtsleiter Dr. Jürgen Wilbert (61), selbst Aphorismen-Schmied aus Passion, darf als Ideengeber gelten. Zündfunke war eine Eingebung des Schriftstellers Elias Canetti: „Die großen Aphoristiker lesen sich so, als ob sie einander gut gekannt hätten.“ Wilbert folgerte: Ihre gegenwärtigen Nachfahren sollten einander tatsächlich kennen lernen – und zwar in Hattingen.

Randfiguren des Buchmarktes

Im Literaturbetrieb tun sich Aphoristiker schwer. Viele publizieren auf eigene Kosten, denn die Verlage setzen in erster Linie auf Romane. Jürgen Wilbert meint allerdings: „Von Romanen bleibt doch oft nur eine Wendung im Gedächtnis.“ Geniale Prosa kann damit zwar nicht gemeint sein. Doch mancher dickleibige Band schnurrt im Resultat vielleicht wirklich auf ein paar Kernsätze zusammen. So gesehen gäbe es keinen Grund, als Aphoristiker in Sack und Asche zu gehen.

Kommen die Sprüche etwa einer kurzatmigen „Häppchen-Kultur“ entgegen? Wilbert: „Nein, nein, es sind eben wohldosierte Worte!“ Zudem habe der Aphorismus einehrwürdige Tradition (siehe Infokasten). Die Zunft dürfe sich jedoch nicht in Selbstgefälligkeit wiegen, mahnt Wilbert. Das Treffen von rund 40 Satzdrechslern soll das Qualitäts-Bewusstsein schärfen. Gar mancher rasche Einfall erweist sich als spitzfindige Wortspielerei ohne sonderlichen geistigen Nährwert.

„Der Aphorismus zwischen Wortspiel und Erkenntnis“ heißt denn auch das Motto der Tagung, die gestern mit einem Vortrag des umtriebigen Vorzeige-Intellektuellen Roger Willemsen begonnen hat.

Diskussionsthemen sind u. a. die Abgrenzung zum Sprichwort sowie „Aphoristisches in der Werbesprache“. Beispiel aus einer Möbelreklame: „Für Ihr gesundes Sitzen stehen wir gerade.“ Klingt ja halbwegs pfiffig, aber ist’s ein Aphorismus reinen Wassers?

Kluge Sentenzen im Rap-Rhythmus

Man will freilich in Hattingen nicht nur fachlich unter sich bleiben, sondern öffentlich wirken. 16 Autoren schwärmen heute in sieben örtliche Schulen aus, um dort Gedankensplitter auszustreuen. Jürgen Wilbert: „Gerade Schüler sind für Aphorismen empfänglich, sie mögen ja kesse und lockere Sprüche.“

Vor allem ans jüngere Publikum wendet sich heute auch das Experiment mit dem„Apho-Rap“: Ein Rap-Sänger will kluge Sentenzen im tanzbaren Stakkato-Rhythmus li- vortragen. Weisheit fetzt…

Mit Aphorismus-Projekten hat sich Hattingen beim bundesweiten Wettstreit als einer U. von 365 Orten im „Land der Ideen“ hervorgetan. Nächster Schritt: Auch in der „Kulturhauptstadt 2010″ will man die gesammelten Geistesblitze leuchten lassen.

Heute ist Publikumstag beim Hattinger Treffen: Morgens stehen Lesungen in Schulen an. Ab 20 Uhr tritt im Stadtmuseum der Kabarettist Wendelin Haverkamp auf, ab 21 Uhr gibt es Freiluftaktionen auf dem Marktplatz, u. a. einschlägige Lichtkunst und den Aphorismen-Rap.

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HINTERGRUND

„Sprachkürze gibt Denkweite“

  • Große Vorläufer in der deutschsprachigen aphoristischen Literatur waren u. a„ Lichtenberg („Sudelbücher“), Goethe („Maximen und Reflexionen“), Jean Paul, Schopenhauer („Aphorismen zur LebensWeisheit“), Karl Kraus, Elias Canetti und Kurt Tucholsky.
  • Zitat-Beispiele:
  • „Sprachkürze gibt Denkweite.“ (Jean Paul)
  • „Vom Wahrsagen lässt sich wohl leben in der Weit, aber nicht vom Wahrheit sagen.“ (Georg Christoph Lichtenberg)
  • „Einer, der Aphorismen schreiben kann, sollte sich nicht in Aufsätzen zersplittern.“ (Karl Kraus)
  • „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt.“ (Erich Fried)

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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