Der letzte Rest von Zuversicht – Wilhelm Genazinos „Die Obdachlosigkeit der Fische“

Von Bernd Berke

„Lange konnte ich es nicht aushalten, dann drückte sich ein furchtbares Gemisch meine Kehle hoch, ein Gemisch aus bitterer Kraftlosigkeit und absoluter Glücksverfehlung“. Ein typischer Satz aus Wilhelm Genazinos Prosaband „Die Obdachlosigkeit der Fische“.

In einer Art Tagebuch häuft eine Lehrerin ihre Depressionen an. Ihre Ängste scheinen längst keine realen Anlässe mehr zu haben, sie heften sich an alles und jedes. Diese vor der Zeit gealterte Frau in den Vierzigern durchstreift, wenn sie sich denn hinaus traut, ihre Umgebung geradezu in dem innigen Wunsch nach Leid. Sie grast Stadt und Land nach beunruhigenden Seltsamkeiten ab. Alsbald fragt man sich: Ist diese Bemitleidenswerte noch in der Lage zu unterrichten?

Nur Resignation und ein flaumweiches Nachgebenwollen liest man heraus, wenn die Lehrerin lauter Verluste verbucht, lauter Vor-Zeichen von Wahn und Tod. Im Bus sitzen nur verhärmte, ärmliche Leute – furchtbar. In der Bäckerei flirten aufgekratzte Verkäuferinnen mit den Kunden – schrecklich peinlich. Auf der Kirmes blickt ein kleines Mädchen so eigenartig – unerträglich. So geht es weiter und weiter. Nichts kann genügen. Auch die seit Jahren bewußt auf Sparflamme gehaltene Beziehung zu einem Manne nicht. Und die Schule ist eh nur eine Zwangsanstalt.

Immer wieder finden die Gedanken der Frau ihren Fluchtpunkt in der Nachkriegskindheit zwischen Ruinen. Da gab es die stumm erduldeten Annäherungsversuche der Jungen, überhaupt die ständige Verstrickung ins Unechte. Wie sie das ausgehalten hat? Indem sie zum Beispiel weidende Schafe anblickte oder sich durch sonstige Zufälle ablenken ließ. Nur in solcher Absichtslosigkeit, die ihr in höchster Not zur Hilfe kommt, liegt eine letzte Ahnung von Glück und Gnade. Dies Spurenelement kann sie vielleicht auch jetzt retten. O, vage Zuversicht!

Ein Buch mit „Wirkung im Bauch“, das bei Lesern vielleicht sogar innere Kräfte freisetzt: Man möchte nämlich immerzu aufbegehren gegen diese Todtraurigkeit, möchte wütend werden oder der Erzählenden wenigstens einen Rest von Revolte wünschen.

Wilhelm Genazino: „Die Obdachlosigkeit der Fische“. Rowohlt. 124 Seiten, 32 DM.

 

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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