Die Notwendigkeit des anderen Menschen – Milan Kunderas neuer Roman „Die Identität“

Von Bernd Berke

In Buchtiteln von Milan Kundera mischen sich oft Gelächter und gelinde Verzweiflung. Sprichwörtlich wurde „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“.

Der Tscheche, der seit 1975 in Frankreich lebt und 1987 den Dortmunder NellySachs-Preis erhielt, schrieb auch „Der Scherz“, „Das Buch der lächerlichen Liebe“ und „Das Buch vom Lachen und Vergessen“. Heute kommt sein neuer Roman „Die Identität“ in unsere Buchhandlungen. Jenseits des Rheins war’s der Bestseller Nummer eins.

In 51 kurzen Kapiteln wirft Kundera Schlaglichter auf die Liebesbeziehung zwischen Chantal und Jean-Marc. Sie ist ein wenig älter als er, hat eine Ehe und den Tod ihres Kindes erlitten und arbeitet nun gut dotiert in einer Werbeagentur. Er vagabundiert hingegen etwas ziellos im Alltag umher.

Auch dieser Roman hat etwas Vagabundierendes, er sammelt Impressionen ein, fast wie im zufälligen Vorübergehen. Kundera will den Momenten der Liebe nicht gleich einen Zusammenhang aufpfropfen, sondern das Vage und Unsichere einer solchen Verbindung aufleuchten lassen. Der Flüchtigkeit kommt er mit flüchtigen Mitteln bei.

Zurück zur Liebe. Wie sollen es die zwei ohne einander aushalten? Um ihre Gefühle zu prüfen, stellt sich die Frau den Verlust des Mannes vor, der Mann gar den Tod der Frau, „denn Chantals Tod begleitete ihn, seit er begonnen hat, sie zu lieben“. Angst erregende Vorboten des endgültigen Abschieds sind jene Augenblicke, in denen die Liebenden einander mißverstehen, weil sie just die Identität des anderen nicht mehr erkennen.

Es fragt sich, worin die Liebe noch gründet

Diese plötzliche Entfernung voneinander gipfelt in gänzlich verwirrender Verwechslung: Jean-Marc spricht eine fremde Frau an, die er irrtümlich für Chantal hält. Wie also sollen sie es unter solchen Vorzeichen noch miteinander aushalten?

Auf den Konflikt steuern die Geschichten-Splitter zu, als Chantal von einem Unbekannten reihenweise Liebesbriefe erhält. Sie, die neuerdings fürchtet, die Männer könnten sich bald nicht mehr nach ihr umdrehen, genießt die postalischen Huldigungen und verbirgt sie (im Kleiderschrank unter den BHs) vor Jean-Marc. Sie rätselt, wer wohl die zärtlichen Episteln geschrieben hat, wer sie da tagtäglich heimlich beobachtet. War’s der Bettler an der Straßenecke? Oder war es gar Jean-Marc selbst? Dann ahnte er ja, daß sie die Blätter versteckt. Identität wird zum Ratespiel, Vertrauen schwindet…

Fragt sich also, worin sich die Liebe noch gründet – nur in der Angst vor dem Verlust? Solchen Existenz-Fragen spürt das Buch anhand vieler kleiner Beobachtungen nach. Die Szenenfolge mündet schließlich doch im Plädoyer für dauerhafte Liebe. Gegen alle Unbill, gegen alle Gier nach Freiheit und erotischem Wechsel.

Kundera ist niemand, der geradewegs drauflos erzählt, pralle Epik ist seine Sache nicht. Lebensstoff wird mit Reflexion durchdrungen, die oftmals in aphoristischer Verdichtung daherkommt. So benennt Kundera z. B. die „drei Arten der Langeweile“, die der Mensch tagtäglich zu bekämpfen suche, oder er ermißt jenes Phänomen der Freundschaft, das letztlich auch einen Kern der Liebe ausmacht: Jeder Mensch bedarf zumindest eines anderen, der seine Taten und sein Fühlen über die Jahre hinweg bezeugt. Denn sonst verlöre man seine Identität. Und dann wäre das Sein unerträglich leicht…

Milan Kundera: „Die Identität“. Roman. Hanser Verlag. 163 Seiten. 42 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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