Die Wege der Begierde sind verschlungen – Erotische Grafik von Hans Bellmer im Museum Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Mensch ist eine Schlingpflanze. Im zeichnerischen Werk des Surrealisten Hans Bellmer nimmt er jedenfalls mancherlei botanische Gestalt an und windet sich so tief wie möglich in sein Gegenüber hinein. Überall möchte er hinkriechen, wenn er nur sein Ich aufgeben kann. Derlei verschlungene Wege der Begierde zeichnet jetzt eine Ausstellung in Bochum nach.

Der gebürtige Schlesier Bellmer (1902-1975) war Opfer einer sehr rigiden Erziehung. Mag sein, daß gerade deshalb seine sexuellen Phantasien hernach so explodiert sind und gelegentlich auch in sadistische Gefilde à la Marquis de Sade abschweiften.

Über die Berliner Dadaisten, über Kontakte mit George Grosz und Otto Dix führte sein Weg in den 30er Jahren nach Frankreich – ins Herzland des Surrealismus, wo seine lasziven Fotoserien von einer Auszieh-Puppe auch den Bewegungs-„Papst“ Andre Breton begeisterten. Aus dieser Zeit stammen denn auch die frühesten Vorlagen für die aus Issoudin (Frankreich) übernommene Schau.

Hier kommt eine Besonderheit ins Spiel. Tatsächlich sieht man nämlich keine einzige Arbeit, die Bellmer von eigener Hand gefertigt hat. Hintergrund: Bis in die 50er Jahre stand sein Werk unter Pornographie-Verdacht; erst um 1966 stellte sich Erfolg ein, der über verschwiegene Privatsammler-Kreise hinausreichte.

Nun stiegen die Marktpreise, und nun kam Bellmer plötzlich mit der Produktion nicht mehr nach. Da fügte es sich, daß eine junge französische Künstlerin ganz auf eigene Schöpfungen verzichtete, um nach seinen gezeichneten Vorlagen kongeniale Kupferstiche und Radierungen herzustellen. Sie hieß Cécile Reims.

Kupferstecherin Cécile Reims wurde billig abgespeist

Doch das wußte damals kaum jemand, denn der geschäftstüchtige Bellmer signierte ihre Druckgraphiken, während man die arme Cécile regelrecht vor der Kunstwelt versteckte und mit Handwerkerlohn abspeiste. Sie soll sogar Gefallen an diesem (un)heimlichen Leben gefunden haben… Erst 1979, vier Jahre nach Bellmers Tod, wurde ihr Inkognito gelüftet. Jetzt steht ihr Name auf dem Katalog, etwas kleiner als der Bellmers, aber immerhin.

Cécile Reims muß einen überaus starken Hang zu Bcllmers Künsten gehabt haben, sonst hätte sie nicht mühsam und getreulich rund 200 seiner Arbeiten mit Stichel und Nadel nachgezeichnet, von denen in Bochum 75 zu sehen sind.

Eine biegsame und wie in feuchten Träumen wandelbare Begierde sieht man da. Die Menschenleiber nehmen notfalls jederlei Gestalt und Verformung an, werden – im unaufhörlichen Reigen – zu seltsamen Gewächsen der Liebe, ja zu bloßen Ornamenten der Erotik. An Deutlichkeit und Drastik lassen die meisten Exponate nichts zu wünschen übrig. Doch all das Prangen der Geschlechtsmerkmale dient nur dem wohligen Schauer des Ich-Verlustes. Und an diesem Punkt begegnet wohl auch der abgefeimte Voyeur einem Spiegelbild sexueller Ekstase: der endgültigen Auslöschung des Ich, dem Tode.

Hans Bellmer und die Kupferstecherin Cécile Reims. Museum Bochum. Samstag, 4. September bis 10. Oktober. Mi-Fr 12-20 Uhr. Sa/So 10-18 Uhr, Mo/Di geschlossen. Katalog (in französischer Sprache mit deutschen Beiblättern) 25 DM.

 

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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