Am Fenster sehen Krieg und Frieden völlig anders aus – Uwe Timms Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“

Von Bernd Berke

Uwe Timm ist ein Wanderer zwischen den Themen. In „Heißer Sommer“ gab der Autor eine Innenansicht der Studentenbewegung zur APO-Zeit, in „Der Mann auf dem Hochrad“ erzählte er eine circensisch angehauchte Geschichte aus Großvaters Epoche, in „Morenga“ schilderte er Deutschlands Kolonial-Historie. Jetzt bemäntelt er mit einem scheinbar komischen Titel ein ernstes Thema: „Die Entdeckung der Currywurst“ handelt vom Kriege und vom kleinen Widerstand.

Timms namenloser Ich-Erzähler besucht die erblindete Frau Lena Brücker, die er seit seiner Kindheit kennt, in einem Hamburger Altenheim. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg soll sie die Currywurst erfanden haben. Doch Timm spart des Rätsels Lösung auf. Am Ende erweist sich die Sache mit der Wurst als eher beiläufige Münchhausiade.

Tatsächlich hat Lena Brücker ja auch eine viel interessantere Geschichte erlebt. In den letzten Kriegstagen, als schon alles in Schutt und Asche lag, hat sie den Deserteur Bremer in ihrer Wohnung versteckt. Bremer ist verheiratet, sie ist verheiratet. Doch die Ehepartner sind in den Kriegswirren fern.

Natürlich entwickelt sich zwischen Bremer und Lena eine Liebschaft auf Zeit. Nachts das lustvolle Matratzenlager, tags die Angst vor Blockwart und Gestapo, die Bremer um ein Haar aufspüren. Er zittert um sein Leben. Nur um eines muß man sich kaum Sorgen machen. Lena Brücker arbeitet in der Lebensmittel-Verwaltung und kann dort öfter etwas beschaffen.

Deutschland im Jahre „Null“ – eine Groteske

Und plötzlich ist der Krieg vorbei. Lena Brücker schwankt zwischen Freude und Entsetzen. Einerseits: der Friede! Andererseits: Wenn Bremer in seinem Versteck davon erfährt, wird er sie verlassen und zu seiner Familie zurückkehren. Also hält sie gleichsam Zeit und Atem an – und sagt ihm nichts. Sie läßt ihm seinen Irrglauben, nun kämpfe Deutschland gemeinsam mit Briten und Amerikanern gegen die Sowjets…

Bremer, ohne Zeitung und Radio, erlebt die langsame Veränderung des Lebens nur im Blick aus dem Fenster. Diese (sozusagen kleinbürgerliche) Perspektive hat Uwe Timm geschickt gewählt. In solcher Verfremdung und Ausschnitt-Verkleinerung wirken historische Ereignisse wie das Auftauchen britischer Soldaten oder die Entstehung des Schwarzmarkts ganz anders, wie unter einer Lupe. Deutschland im „Jahre Null“ – eine Groteske.

Timm, ein solider, gelegentlich etwas zu routinierter und beflissener Erzähler, übt sich in wirksamer Bescheidenheit. Heutzutage nennen die Verlage Jedes Buch über 100 Seiten ein „Roman“. Hier gibt man sich mit der Bezeichnung „Novelle“ zufrieden. Auch sonst ist das Buch eine zwischen Elegie und Zuversicht schwankende Feier des Unscheinbaren, des Unauffälligen – zumal des kleinen Widerstands kleiner Leute im großen Krieg. Hier werden keine Heiden aufgeboten, um zu zeigen, wie widerwärtig Krieg und Naziherrschaft waren. Komische, fast chaplineske Einfälle hat der Autor. Vielleicht die schönste Stelle: Ein Koch verköstigt die Leute vom Reichsrundfunk so übel, daß sie die angeblichen Triumphe der Wehrmacht am Mikro nur noch mit Würgelauten vermeiden können.

Kein großes Buch. Das will es auch nicht sein. Aber ein lesenswertes. Und schließlich: Wer möchte denn nicht wissen, wie die Currywurst erfunden wurde?

Uwe Timm: „Die Entdeckung der Currywurst“. Kiepenheuer & Witsch. 221S., 29,80DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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