Miniaturen einer Weltflucht – Wilhelm Genazinos „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“

Von Bernd Berke

Mit seiner Romantrilogie „Abschaffel“, diesen äußerst präzisen Beobachtungen aus dem bundesdeutschen Angestelltenalltag, ist Wilhelm Genazino zu einem der interessantesten bundesdeutschen Autoren geworden. Individuelle Besessenheiten schilderte er dort zum Erschrecken treffend, gerade weil er das gesellschaftliche Umfeld nicht aus dem Auge verlor.

Jetzt legt Genazino Miniaturen einer Weltflucht vor. Auch dieses Buch trägt den Gattungstitel „Roman“, doch das täuscht. Die Kurzkapitel fangen oft nur Augenblicke ein. Die Erzählweise beschreibt keinen „großen Bogen“, sie konzentriert sich auf unscheinbar kleine und kleinste Momente am Rande. Gelegentlich verfällt Genazino dabei in Banalitäten oder in abgehobenen Sensibilismus. Doch weitaus öfter gewinnt er „Kleinigkeiten“ verblüffende, ja manchmal geradezu großartige Beobachtungen ab.

Der Ich-Erzähler, eine nicht näher definierte Künstler-Existenz, befindet sich im Dauerkonflikt mit empfindlich registrierten Zumutungen und Ablenkungen seiner Umwelt. Die beginnen schon mit einem bloßen Fleck auf der Jacke, nehmen bedrohlich Gestalt an in Begebenheiten auf den Straßen und hören mit der Bundesrepublik als solcher (die der Erzähler als eine einzige große Fernsehfamilie wahrnimmt) noch lange nicht auf. Er will – am liebsten im Wortsinne – verschwinden, also unsichtbar werden. Da das unmöglich ist, will er wenigstens fort: Mit seiner geheimnisvollen Freundin Gesa reist er von Frankfurt nach Wien, Paris, Amsterdam. Doch er fühlt sich in all diesen Metropolen wie im Exil, begeistert sich wohl auch deshalb für die Tagebücher des von den Nazis verfemten Künstlers Max Beckmann. Der Besuch in Beckmanns Amsterdamer Exil-Wohnung wird so zu einer Art Wallfahrt.

Über der seltsamen Flucht, die gelegentlich durch winzige Zufälle gelenkt wird (er sieht z. B. eine Erdgas-Reklame, denkt „Erdgas – Degas“ und will sogleich nach Paris, um dort Bilder dieses Malers zu sehen), könnte eine Gedichtzeile von Bert Brecht stehen: „Ich bin nicht gern wo ich herkomme / ich bin nicht gern wo ich hingehe .. .“

Wundersame Bedrohung, wundersame Befreiung: Unvermittelt gibt es auch immer wieder jene Glücksmomente der Überwindung aller Angst. Dann ist der Weltschmerz ganz weit weg, als flöge man plötzlich leicht darüber hin.

Wilhelm Genazino: „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“. Rowohlt Verlag. 232 Seiten, 32 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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