Im Sog der Verzweiflung – „Minna von Barnhelm“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Kriegsheimkehrer ist halb verkrüppelt. Ohne Geld, in Erwartung eines infamen Gerichtsverfahrens wegen angeblicher Bestechlichkeit, gibt er sich dem Sog der Verzweiflung hin. Das klingt fast wie ein bitterer Vietnam-Blues, doch es steht in Lessings „Minna von Barnhelm“. Der Mann, dessen „preußische Ehre“ beschmutzt wird, ist der entlassene Major von Tellheim.

In Urs Trollers Bochumer Inszeniemng bleibt freilich von Preußen keine Spur. Tellheim (Wolfgang Michael) ist ein Leidensmann, verhärmt, verhuscht, verwirrt, verwahrlost – ein Schatten von einem Menschen. In schäbiger Montur, das Haar strähnig, „wildgrubert“ er über die Bühne, ein Misanthrop, ein Monster des Menschenhasses; einer, der sich geradezu autistisch in sein Unglück vergräbt und sich einpanzert, der Genuß aus dem Leiden zieht. Nur manchmal blitzt, grotesk verzerrt, ein Rest von Glücksgier auf. Eine Figur wie von Dostojewski.

Die Behandlung solcher Seelenleiden kann, so ist das in einer Komödie, natürlich nur in Liebe bestehen. Strahlend schön, mit schwellendem Busen, betritt „Minna von Barnhelm“ (Andrea Clausen) die Szene. Durch Zufall findet sie Tellheim, dem sie seit langem versprochen ist, in einem Gasthof. Doch Tellheim will sie nicht mit seinem Unglück belasten, er sperrt sich – in vehementer Leidens-Wollust – beharrlich gegen das nahe Glück.

Fraglich ist hier, was Minna eigentlich an ihm findet. Dieser Tellheim kann wohl niemais ein „Held“ gewesen sein. Auch sein Edelmut, zu Teilen eine Utopie der Gleichheit und Freiheit (von Geldzwängen), ist so gar nicht von dieser Welt. Seine lakonischen Einwürfe wirken oft nachgerade kindlich-naiv. So scheint es, als versteige sich Minna nur in ein willkürliches Lieben-Wollen. Wenn sie ihre Intrigen spinnt, um Tellheim gegen alle Widerstände in ihren Bann zu ziehen, so hat das viel Willküriich-Spielerisches, es paßt sehr gut zum Jungmädchen-Gekicher, dem sie sich mit ihrer Dienstmaid Franziska (Micheline Herzog) anfangs ausgiebig überläßt. Doch als sie – darin stimmen Text und Inszenierung überein – das Spiel schließlich bis zur Grenzlinie des Erträglichen treibt, wandelt auch sie Verzweiflung an.

Die schauspielerischen Leistungen, mit denen dies vorgeführt wird, sind sehenswert, es gibt sogar ein paar wahrhaft packende Szenen, bei denen es im Publikum atemlos still wird.. Auch die Nebenrollen sind gut besetzt. Zwar: Diener bleibt hier Diener, ohne Bewußtsein von Knechtschaft, höchstens mal maulend, ansonsten jedoch ums Glück ihrer Herrschaften brav mitzitternd. Aber recht hübsch machen sie das schon: Micheline Herzog als „Franziska“, Thomas Anzenhofer als „Just“ und Ivo Dolder als Wachtmeister „Paul Werner“. Abermals herausragend: Sven-Eric Bechtolf – auch er eine Art „Dostojewski-Charakter“, als Glücksspieler „Riccaut“.

Der Schattenriß des Lessing-Kopfs auf dem weißen Vorhang ist Programm: In der ganzen Inszenierung ist ein Respekt vor dem Text spürbar, eine Tendenz, die Worte „stehen zu lassen“. Auch das Bühnenbild (Florian Parbs) ist keiner Weise kunsträumlich-visionär, sondern schlicht und zweckmäßig.

Kein Regietheater also, aber (inzwischen schon Bochumer Spezialität) mal wieder ein  Régiewechseltheater, denn Urs Trailer übernahm die Produktion mitten im Entstehungsprozeß.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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