Forum für mutige Freizeit-Autoren – Literaturzeitschriften im Ruhrgebiet

Titelseite der WR-Wochenendbeilage vom 2. Oktober 1982 mit Fotos von Bodo Goeke.

Von Bernd Berke (Text) und Bodo Goeke (Fotos)

Sie heißen „Spinatwachtel“, „Gießkanne“, „Schmankerl“ und „Galgenvogel“, nennen sich „Perlen vor die Säue“ oder auch „Geil & Fröhlich“. Die exotisch, versponnen, witzig oder provozierend titulierten Literaturzeitschriften – links ein Blick in die Redaktion des Essener Blattes „Schreibheft“ – sind Ausdruck einer Entwicklung, die in den letzten Jahren immer deutlicher zutage trat: Die Zahl der „Freizeitdichter“ nimmt stetig zu.

Auf dem Hamburger „Literatrubel“ beschwerten sich unlängst schon einige Berufs-Autoren über die unliebsame Konkurrenz und mahnten, man solle wieder mehr auf Qualität – was immer das heißen mag – achten. Etwa 200 kleine und kleinste Literaturzeitschriften teilen sich den höchst unübersichtlichen Markt des deutschsprachigen Raums. Viele dieser Druckwerke decken heute im weitesten Sinne das „alternative“ Themenspektrum ab, und ein Großteil stellt sich in den nächsten Tagen auf der Frankfurter „Gegenbuchmesse“ vor.

Die meisten Hefte vegetieren bei Auflagen von einigen hundert Stück dahin und sind Zuschußunternehmen. Daß in den jeweiligen Vorworten über die Finanzmisere geklagt wird, gehört schon zum Standard. Pleiten und Neugründungen sind an der Tagesordnung. Die wenigsten dieser Zeitschriften existieren über die ersten paar Nummern hinaus.

Selbst Josef Wintjes vom Literarischen Informationszentrum in Bottrop, seit 13 Jahren gewissenhafter Sammler aller Informationen aus der Szene, hat den Überblick verloren: Dennoch ist sein Büro (4250 Bottrop, Böckenhoffstraße 7, Tel.: 02041/ 20568, Anruf erwünscht‘) noch immer die wichtigste Anlaufstelle für alle, die mit Literaturzeitschriften zu tun haben (wollen).

Wie sieht die Lage im Ruhrrevier aus? „Wer sich länger als zwei Jahre halten kann, ist schon fast „etabliert'“, sagt einer, der sich bestens auskennt. Ulrich Homann gibt seit März 1977 in Essen das „Schreibheft“ (Auflage: ca. 1500, hauptsächlich Abonnements) heraus, dessen neunzehnte Ausgabe vor zwei Monaten erschien. Gemeinsam mit Norbert Wehr und Ulrich Bienek wollte er eigentlich ein Forum für alle Bevölkerungskreise schaffen, fiir jene zahllosen Zeitgenossen, die ansonsten nur für die berühmte „Schublade“ schreiben. Es brach eine wahre Flut von Texten über die Essener herein: Für eine Ausgabe schickten Freizeitautoren sage und schreibe 1500 Texte an das Herausgeberteam. Theoretisch hätte man schon mit diesem Schub für einige Jahre ausgesorgt. Höchstens 40 Beiträge finden in einer Ausgabe Platz. Zähneknirschend zog man die Konsequenz, legte seither strenge Maßstäbe an und verfiel dabei ins andere Extrem. Die letzten „Schreibhefte“ lesen sich wie hochkarätige Veröffentlichungen eines Spitzenverlags. Fast nur noch bundesweit bekannte Autoren, die bereits publiziert haben, sind vertreten, darunter etwa Eckhard Henscheid, Christoph Derschau, Walter Höllerer, Hans Christoph Buch.

Aus Kostengründen bekommt kein „Schreibheft“-Autor Honorar, weswegen es schon einigen Ärger mit erbosten Zulieferern gab. Ulrich Homann, mittlerweile sogar hauptberuflich als Zeitschriftenmacher tätig: „Wir sind leider ziemlich elitär geworden. Ich finde das nicht gut. Zur Zeit diskutieren wir, ob wir uns nicht wieder dem breiteren Publikum öffnen und auch Nicht-Profis schreiben lassen sollten“. Für Unverdrossene: Manuskripte können an den Verlag Homann & Wehr, Oberdorfstraße 53/55, 4300 Essen l (ab Dezember 1982: Stockenberger Straße 13-15, 4300 Essen 1), geschickt werden. Allerdings sollte man vorsichtshalber Rückporto beilegen.

Sind die Träume der späten 60er und frühen 70er Jahre, Zeitschriften zu machen, die die „Schwellenangst“ vor der Literatur senken, ausgeträumt? InBochum wurde 1979 ein Versuch gestartet, der diese Befürchtung widerlegen sollte. Die Leute, die dort den „Angler“ gründeten, kamen rein zufällig in einer Kneipe aufs Thema Literatur. Einer verriert schamhaft: „Ich schreibe in meiner Freizeit Gedichte“ und staunte nicht schlecht, als er vernahm, daß an der Theke noch andere standen, die ebenso verborgene  Dichterexistenzen führten.

Der Entschluß, sich mit Lyrik, Kurzgeschichten und Graphik gemeinsam an die Öffentlichkeit zu wagen, war schnell gefaßt. Doris Nickel: „Wir haben uns ganz heftig angagiert, haben Lesungen veranstaltet, haben Flugblätter verteilt, auf denen stand: ,Leute, schreibt!'“ Verblüffendes Ergebnis dieser Anstrengungen: Es kamen kaum Texte zusammen. Man hatte Mühe, die ersten Nummern (jeweils etwa 40 Seiten, Auflagen zwischen 500 und 1200 Stück, die vor allem im Handverkauf abgesetzt wurden) zu füllen.

Kaum zu glauben, wenn man die Manuskriptstapel sieht, die bei den Essener „Schreibheften“ eingingen. Doris Nickel: „Besonders Frauen waren kaum vertreten. Wahrscheinlich schreiben viele Frauen private Tagebücher, die sie nicht für veröffentlichungsreif halten, während Männer ihre eher politischen Texte gedruckt sehen wollen.“ Besonders gefreut hat sich Doris Nickel deshalb über die Texte einer 82-jährigen Frau, die nach Teilnahme an einem VHS-Schreibkurs dem „Angler“ literarische Betrachtungen über Alterseinsamkeit schickte. Gerade diese Blätter waren allerdings Anlaß für Streit in der „Angler“-Gruppe. Hie Vertreter einer politischen Linie, da jene, die auch „private“ Texte zulassen wollten, die ja keinesfalls unpolitisch sein müssen. Der Streit flackerte im Lauf der Zeit immer wieder auf – mit gleichen Fronten. Einige sprangen schließlich ab.

Der „Angler“ wird heute von einer Gruppe gemacht, die sich an jedem zweiten Montag eines Monats um 20 Uhr im Bochumer „Rotthaus“ trifft. Mit der angestrebten Volksnähe war es nicht so einfach. Die Verfasser der „Angler“-Beiträge sind fast ausnahmslos Studenten, oft auch noch solche der Germanistik. Lotte Ebers, die in der neuen Gruppe mitwirkt: „Wir haben immer noch Probleme, an gute Texte und Graphiken heranzukommen. Übrigens ist uns der Kontakt zu den Autoren sehr wichtig.“ Doris Nickel von der ehemaligen „Angler“-Gruppe plant unterdessen die Gründung einer neuen Zeitschrift und sucht ebenfalls Leute, die mitmachen. Kontakadresse: 463 Bochum, Karl-Friedrich-Straße 91.

Jürgen Kramer, Gelsenkirchener Maler, ließ am Anfang (1978) „wahllos jeden erreichbaren Text drucken“, wollte dann aber keine Kompromisse mehr eingehen. Seine Zeitschritt „Die 80er Jahre“ wendet sich jetzt – in dieser Ausschließlichkeit ein Unikum im Ruhrgebiet – bewußt nur an eierlesenen Kreis von Avantgarde-Künstlern. Die Tendenz – weg vom größeren Leserkreis, hin zum hohen Qualitätsanspruch – ist noch drastischer als bei den erwähnten Blättern aus Essen und Bochum. Ein Teil der etwa 1000 Exemplare (Startauflage vor vier Jahren: 200 Stück) kursiert in Frankreich, England, Italien und den USA. Kramer verabscheut Wiederholungen: „Jedes Heft sieht völlig anders aus, nur der Titel bleibt.“ Wer Schreibproben schicken wolle, könne das tun (Jürgen Kramer, Postfach 1142, 465 Gelsenkirchen). Jedoch: „Die Abdruckchancen halten sich in Grenzen“. Auch Jürgen Kramer muß einen Teil der Druckkosten aus eigener Tasche finanzieren.

Wenig ermutigendes Fazit: Zumindest im Ruhrgebiet sind die Möglichkeiten dafür, daß Geschriebenes aus der Schublade an die Öffentlichkeit gelangt, zur Zeit noch dünn gesät.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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