Welt im Wartezustand – Werke von Ricardo Stein in Dortmund und Bochum

Van Bernd Berke

Dortmund/Bochum. Dortmunds Ostwall-Museum und das Museum Bochum, vor langen Jahren in einen ,,Museumskampf um die Sammlung Gröppel verstrickt, arbeiten jetzt einträchtig zusammen. Die gemeinsame Anstrengung beider Häuser läßt mit der Doppelausstellung ,,Isaac Ricardo Stein“ zwei Revierstädte in Sachen Kunst eng aneinanderrücken.

Wahrend Bochum etwa 160 Zeichnungen des 1951 in Freiburg geborenen jüdischen Künstlers zeigt, sind in Dortmund 80 Öl- und und Aquarell-Bilder zu sehen – zusammen ein repräsentativer Querschnitt durch das Werk des jungen Autodidakten Ricardo Stein, der schon erfolgreich in Paris, Bremen, Freiburg und Israel (von wo aus die Revier-Expositionen angeboten wurden) ausstellte. Die Dortmunder Ausstellung wird am Sonntag um 15 Uhr von NRW-Ministerpräsident Rau eröffnet.

Besonders in den früheren Werken gehören jüdische Überlieferung und kabbalistische Zahlenmystik unmittelbar zum Inventar. Eine Periode verhaltener Farbgebung aus Brauntönen und wie aus geheimer Quelle leuchtenden Gelb-Gold-Schattierungen wechselt mit plakativ and aggressiv kolorierten Bildern. Einige Motive werden immer wieder aufgegriffen: Die Heilige Schrift, Ziffern und hebräische Zeichen, das Judentum symbolisierende siebenarmige Leuchter oder Davidssterne, aber auch eincollagierte Geldscheine oder (Kindheitserinnerung) Spielzeug und das Motiv der Maske, somit die Verhüllung seelischer Not. Solche Requisiten werden miteinander zu (nicht immer kraft- und sinnvoll strukturierten) Ensembles verwoben. Zahlreiche Bildtitel, wie ,,Zerstörung“, ,,Selbstzerstörung“, ,,Verzweiflung“, ,,Enge“ oder ,,Irrenhaus“ suggerieren pure Unterbittlichkeit.

Darstellungen aus dem Bereich des Zirkus‘, der Maskerade, heben diesen Eindruck teilweise wieder auf: Sie zeigen den Künstler a u c h als Darsteller des Leidens. Dem irritierenden Zwischenzustand entspricht ein für Ricardo Stein typischer Bildaufbau. Vielfach geraten Objekte wie Personen in eine gleichsam schwerelose Schräglage – Häuser scheinen zu schlingern und zu kentern oder stehen sogar auf dem Kopf. Stein malte, wie ein Bild von 1963 im (dürftig geratenen) Katalog belegt, schon als 12Jähriger die Dinge meist kopfüber, also einige Zeit vor dem dafür bekannt gewordenen Georg Baselitz. Der Schlüssel hierfür findet sich in der jüdischen Tradition, nach der der messianische Erlöser dann kommt, wenn die Welt ,,sich umgedreht hat“. Ricardo Steins Bilder schildern eine Welt, die die Erlösung braucht, also eine Welt im Wartezustand.

Anhand der in Bochum gezeigten, in geradezu erdrückender Dichte gehängten Zeichnungen, lassen sich ähnliche Entwicklungen verfolgen. Eigentümlich, wie Weglassen und drastische Darstellungen nebeneinander stehen. Besonders bei einer Serie von Aktzeichnungen wird dies deutlich. Figuren, eingefangen in autistisch anmutenden Verrenkungen, starren an sich herab. Wo das Geschlechtsteil sein müßte, ist entweder Leere oder im Gegenteil eine überdeutliche, schreiende Wiedergabe des Geschlechtsmerkmals.Ein Anzeichen für starke Gemütsschwankungen: Die Angst ist entweder gar nicht da, oder sie wird herausgeschrien.

Ostwall-Museum Dortmund und Museum Bochum, Kortumstraße 147: ,,Isaac Ricardo Stein“. Gemälde in Dortmund (29.1. bis 11.3.), Zeichnungen in Bochum(28.1.bis 11.3.)

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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