Durch das citynahe Dortmunder Stadtviertel verläuft eine Hauptstraße, auf der jahraus, jahrein kräftige Fluktuation herrscht. Ständig schließen Geschäfte, etwas zögerlicher werden dann neue eröffnet. Zwischendurch gibt es Leerstände, die viele Monate dauern.
So eine Straße ist – mitsamt dem Geflecht der Nebenstraßen – ein Organismus. Sie lebt, sie atmet, doch sie kann auch ersticken und vergehen.
Vor wenigen Jahren hat es hier noch ein paar kleinere Geschäfte gegeben, die von einem bestimmten Typus älterer Damen betrieben wurden. Diese betrachteten vielfach die Einnahmen als schöne Nebensache und hatten in ihren Läden lauschige Eckchen eingerichtet, die vor allem dem Gruppenschwatz dienten. Da waren oft ganze Kränzchen beisammen. Geradezu klischeegerecht. Die wohl bemerkenswerteste Unternehmung bestand allerdings aus einem winzigen Verschlag mit schmaler Durchreiche, hinter der eine Näherin in drangvoller Enge saß. Ich wüsste gerne, wie sich das Leben hier in den 1960er Jahren abgespielt hat. Beispielsweise.
Nur selten ein „Verweile doch…“
Die langfristige Tendenz in der Straße scheint leider auf abnehmende „Aufenthaltsqualität“ hinzudeuten. Geschäfte, die irgend zum Verweilen einladen, verschwinden zusehends, dafür kommen zahlreiche Versicherungsbüros und ähnliche Langweiler ohne belebende Laufkundschaft.
Billige Glitterbranchen wie Nagelstudios und Goldankäufer bilden jetzt das eine Ende des Spektrums, Luxusläden mit ziemlich unverschämten Preisen das andere. Die goldene Mitte ist hingegen schmaler besetzt als ehedem. Traditionell gediegenes Gewerbe (Weinhandel, Parfümerie) behauptet sich noch. Doch sind die menschlichen Originale, die früher den Charme des Quartiers ausgemacht haben, größtenteils nicht mehr da. Beispielsweise jene liebenswerte, keineswegs verkommene Schnapsdrossel, eine Mittachtzigerin, die unverdrossen mit ihrem Hündchen unterwegs war und sich allabendlich ein paar Gläschen im damals noch zünftigen Ecklokal genehmigt hat. Heute residiert an selber Stelle ein Edelitaliener.
Diffuse Ängste vor dem „Norden“
Solch teuren Lokalitäten zum Trotz: Nicht wenige Leute vermuten, dass das Viertel „kippen“, also irgendwann herunterkommen könnte. Dieses vage Gefühl, das vorwiegend verängstigte Kleinbürger befällt, verbindet sich mit diffusen Ängsten vor der berüchtigten, nicht allzu weit entfernten Dortmunder Nordstadt, deren arge Sozialprobleme angeblich nach und nach gleichsam „herüberschwappen“.
Hierbei wiederum spielen auch fremdenfeindliche Haltungen hinein. Man achte auf manche Zwischentöne in ganz alltäglichen Gesprächen. Wenn es denn bei Zwischentönen bleibt. Und man staune, wie manche „Migranten“, die schon länger hier leben, oft zu den heftigeren Gegnern der neuesten Einwanderer zählen.
Da spukt in etlichen Köpfen eine Art „Domino-Theorie“, derzufolge ein Viertel nach dem anderen zu fallen droht. Und tatsächlich wäre es ja eine beunruhigende Vision, dass wir irgendwann nicht nur die Ausdrücke „No-go-Area“ und „gated communities“ aus dem angloamerikanischen Sprachraum übernehmen, sondern auch die entsprechenden Zustände.
Ganoven mancher Sorte
Das vergleichsweise attraktive, immer noch urbane, mit einigen schönen Altbauten gesegnete Viertel zieht jedenfalls auch ein paar Ganoven mancher Art und Herkunft an. Hier könnte ja etwas zu holen sein. Kürzlich trieb eine vierköpfige Gruppe ihr Unwesen, die reihenweise Ladeninhaber dermaßen in Beschlag nahm und ablenkte, dass der Diebstahl quasi nebenbei erfolgen konnte. Ein Trick, den die Kripo inzwischen kennt, bestand darin, dass einer vom Quartett ein höchst auffälliges Tattoo am Hals trug. Das sei unklug, weil man ihn dann gleich wiedererkennt? Im Gegenteil. Das Ding war nur aufgeklebt, dominiert aber hernach alle Täterbeschreibungen.
Aber wir schweifen ab. Wichtiger ist dies: Ein Supermarkt auf der besagten Hauptstraße bietet seit ein paar Jahren Spätverkauf bis 22 Uhr an. Damit lockt man teilweise ein prolliges Publikum, das ehedem zur „Tanke“ fuhr, um noch schnell dringlichen Alkoholbedarf zu decken.
Personenschützer vor dem Supermarkt
Gewiss: Arme Teufel und desolate Menschen sind darunter, die hier bestenfalls noch einen Rest von Sozialkontakt aufrecht erhalten. Das ist schon beim bloßen Hinsehen betrüblich. Doch solche Phänomene sind in weiteren Teilen der Stadt zu beobachten. Hier ist das Leben offensichtlich härter und zermürbender als etwa im schickeren Düsseldorf. Und hier leben ersichtlich mehr Menschen „an der Armutsgrenze“ als anderswo.
Nicht allen Gestalten aus der abendlichen Kundschaft möchte man gern begegnen. Bedrohlich sind aggressive Gruppen mit Hang zum Marodieren. Und so sieht sich die Supermarktkette veranlasst, zu späteren Stunden sehr eckig aussehende Personenschützer am Eingang zu postieren. Auf jeden Fall gilt die Regel, dass abends keine reine Frauenbesetzung mehr dort arbeiten darf. Was da wohl vorgefallen ist? Nicht selten tauchen – vor dem Hintergrund einer allgemein aufgeladenen Stimmung – Trüppchen auf, die kurzerhand Bierdosen aus den Regalen nehmen, sie sofort grölend austrinken und dann zügig verschwinden. Hassu Problem damit?
Wenn die Schnösel kommen
Andererseits sind in einigen Nebenstraßen die Zeichen der vielbeschworenen „Gentrifizierung“ unverkennbar. Anders gesagt: Die Schnösel kommen auf breiterer Front. Alteingesessene Einwohnerschichten sterben aus oder räumen allmählich das Feld, statt dessen ziehen Yuppies zu, denen die Mieten, die hier jetzt aufgerufen werden, offenbar nicht zu hoch sind. Und so breitet sich tagsüber auch eine Latte-macchiato-Fraktion mit Bugaboo-Kinderwagen aus, als gelte es, mit deutlich geringeren Ressourcen den Prenzlauer Berg und dergleichen In-Viertel nachzuahmen.
Nun könnte man natürlich achselzuckend sagen, all das Skizzierte mache in seiner widersprüchlichen Vielfalt just eine großstädtische Umgebung aus. Sofern es denn eine belebte und belebende Mischung bliebe, wäre es ja auch recht so. Noch ist die Mixtur im Kiez größtenteils spannend, wenn sie auch hier und da auszufransen droht und sich kleine Anzeichen der Verwahrlosung mehren. Man möchte das Viertel gern in Schutz nehmen wie ein Lebewesen.
Den angesprochenen Stadtteil kenne ich nicht. Die Beobachtungen zumal eines Ansässigen wische ich nicht so leicht hinweg. – Ein keckoptimistisches In-den-Teich-(oder-in-die-Ostsee-) Blicken ist für mich kein ernsthaftes Gegenargument.
@Detlef Mühlberg
1. Strotzenden Pessimismus oder gar Wehleidigkeit kann ich in dem Beitrag nicht erkennen, wohl aber eine klarsichtige Beschreibung der Zustände im beschriebenen Stadtteil, die natürlich auch negative Aspekte/Entwicklungen nicht ausspart. Mit welchem Recht macht das jemand herunter, der – aus Essen stammend, nicht Dortmund, und jetzt an der Ostsee sitzend – offensichtlich überhaupt keine Ahnung hat, wie es inzwischen im Ruhrgebiet aussehen kann?
2. Zudem kann ich an Ihrem Kommentar keine wirkliche Kritik erkennen, die Bernd Berke, so wie ich ihn kenne, selbstverständlich vertragen und auch ernstnehmen würde, sondern lediglich ein in unverschämten Worten und beleidigenden Wendungen vorgebrachtes Gemaule.
3. Aus all dem folgt, dass man es nur begrüßen könnte, wenn Sie hier „abschalteten“. Sollte das denn wirklich eine Drohung sein? Mir jedenfalls täte es nicht leid, denn solche Kommentare wie den Ihren kann man in die Tonne hauen („kloppen“ sagt der Ruhrpottler eigentlich), nicht Bernds Artikel.
Übrigens: Andere Meinungen kann ich sehr wohl akzeptieren, aber nicht solche, die sich mit Formulierungen wie „sie haben wohl ein Problem und sollten Hilfe in Anspruch nehmen“ zieren.
Die Landung kann ja nur dann hart sein, wenn man Illusionen hegt.
Es ist wohl so, dass „wir auf verschiedenen Wolken schweben“, hoffentlich ist Ihre Landung nicht zu hart. Lernen Sie bitte auch Kritik zu akzeptieren und auch andere Meinungen als gerecht zu empfinden. Sonst muss ich Sie leider abschalten, so leid es mir dann tut.
Eine Diagnose aus der Ferne, die doch so nahe sei kann.
Meine Erziehung (im Ruhrgebiet in den 60er genossen)verbietet mir, einfach Blödmann zu sagen > und dann tue ich es auch nicht. Schönen Abend noch bis zum nächsten Artikel.
Vielen Dank für Ihre rasche Ferndiagnose. Wenn Sie schon gleich dreimal lesen, müsste sich eigentlich ein Sinn für Nuancen und Differenzierung eingestellt haben. Aber ach…!
Werter Berichtsverfasser. Habe diese Reportage nun dreimal gelesen und kratze mich immer noch am Hinterkopf. Als jemand der älteren Generation (Baujahr 1949) der überall in Deutschland zeitweise „zu Hause“ war, in Essen bis zum 21. Lebensjahr „die Sau rausgelassen hat“ und nun letztendlich in Rostock den Norden mit der Ostsee geniesst, möchte Ihnen sagen, sie haben wohl ein Problem und sollten Hilfe in Anspruch nehmen. Ich habe viele Artikel von Ihnen gelesen (einige für mich uninteressante, andere sehr gute…) aber dieses „Werk“ kann man getrost in die Tonne hauen, es strotzt von Pessimismus, Wehleidigkeit pp.
Das braucht kein Mensch
Freundliche Grüsse von der Baltic Sea, die ich mir jeden Tag voller Optimismus anschaue
Detlef Mühlberg