Rassismus im Reihenhaus: „Waisen“ bei den Ruhrfestspielen

Foto: Jim Rakete/Ruhrfestspiele

Foto: Jim Rakete/Ruhrfestspiele

Wer hiesiges Regietheater gewohnt ist, dem kommt das Szenario von „Waisen“ zunächst etwas boulevardesk vor: Man blickt in ein naturalistisch nachgebautes Reihenhauszimmer mit ikeaartigen Resopalmöbeln, in denen drei Leute wie du und ich sitzen: Spielzeug liegt herum, keiner hat überdimensionale Hasenmasken an oder ist nackt und auch die übliche Videoprojektion sucht man vergebens. Langweilig? Konventionell?

Nicht unbedingt. Denn das „wellmade play“ des britischen Dramatikers Dennis Kelley, in Szene gesetzt von Wilfried Minks für die Ruhrfestspiele in Koproduktion mit dem St. Pauli Theater Hamburg, überzeugte durch den spannenden und psychologisch ausgefeilten Plot und eine punktgenaue Dramaturgie.

Auch wenn von kunstvoller Sprache keine Rede sein kann, so birgt das Thema viel sozialen Konfliktstoff: Eine inzwischen wohl situierte Frau lässt sich von ihrem gewalttätigen, ausländerfeindlichen Bruder manipulieren, weil sie das schlechte Gewissen aus der Kindheit umtreibt. Beide waren Waisen und ohne den Bruder gelang Helen der Aufstieg aus dem verlotterten Milieu besser. Gleichzeitig zieht sie ihren brav-bürgerlichen Ehemann so tief in die üblen Machenschaften des Bruders hinein, dass man ihre „unterschichtige“ Sehnsucht nach einem Mann der Tat spürt: Nicht nur distinguiert daherschwätzen, sondern auf die Straße gehen und auch mal einem Araber aufs Maul hauen, wenn es sein muss – eigentlich hätte sie das insgeheim ganz gern und entlarvt so selbst, woher sie kommt. Judith Rosmair zeigt diese Charakterdeformation sehr authentisch. Im Cocktailkleidchen sitzt sie zunächst beim Abendbrot und nimmt Schlückchen vom exquisiten Weißwein. Doch je weiter sich die Situation zuspitzt, desto mehr entpuppt sie sich als Tussi, die kein Mitleid mit sozial Schwächeren empfindet, weil diese sie an ihre eigene Herkunft erinnern, der sie entkommen will.

Überhaupt sind die Schauspieler großartig. Neben Rosmair auch Uwe Bohm als Ehemann Danny, der seine moralischen Zweifel an der Straftat, die ihn bis in sein Haus verfolgt, so gequält über die Rampe bringt, dass man mit ihm leidet: „Schmeiß die Schlampe doch raus und den missratenen Bruder gleich mit, die wollen dich doch nur ausnutzen“, möchte man dem armen Kerl zurufen, aber er rafft’s nicht und lässt sich immer tiefer verwickeln, bis er selbst schuldig wird. Und natürlich Johann von Bülow als Liam: Wie er zwischen brutal und weinerlich schwankt, wie er lügt und betrügt und seiner Schwester und ihrem Ehemann ihr Leben neidet. Wie die Minderwertigkeitskomplexe des Underdogs in Aggressionen umschlagen. Diesem Typen kann man keinen Zentimeter über den Weg trauen. Wer ihm nachts im Dunkeln begegnet, hat nichts zu lachen – ein mieser Charakter in seiner reinsten Verkörperung.

So endet die Sache ganz und gar nicht gut, sondern in einem gemeinsamen, rassistischem Mord. Doch obwohl es auf der Bühne aussieht, wie bei uns zu Hause, so ist das zum Glück eine Theaterillusion und wir sind unschuldig: Erleichterter Schlussapplaus. Lasst uns lieber gepflegt ein Glas Weißwein trinken gehen.

www.ruhrfestspiele.de

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