Siegfried Lenz: Gaukelspiel der Masken

Nachdem das Unwetter sich gelegt hat, liegt ein metallgrauer Container am Strand der kleinen Nordsee-Insel. Der Container, im Sturm über Bord gegangen, muss auf einem Schiff nach Hamburg unterwegs gewesen sein: Adressat ist das Museum für Völkerkunde der Hansestadt. Einige Neugierige brechen die Fracht auf, finden darin Masken verschiedener Tiere. Hier die Maske eines Frosches, dort die eines Bären, einer Ente, eines Schweins, eines Tigers oder eines Drachen.

Als die Menschen, wie eigentlich an jedem Abend, in der Inselkneipe „Blinkfeuer“ gemütlich beisammen hocken, fangen einige der angetrunkenen Gäste an, sich die erbeuteten Masken aufzusetzen. Aus einer spontanen Laune heraus nimmt so ein seltsames Experiment seinen Lauf. Denn die Menschen haben ihre Gesichter zwar hinter den Papier-Masken verborgen, sie lassen aber zugleich ihre emotionalen Masken fallen. Inselbewohner, die seit langem im Streit liegen, versöhnen sich, Fremde tanzen miteinander, junge Paare gestehen sich ihre Liebe. Doch was wird geschehen, was wird von der Intimität der entstellenden Verstellung bleiben, wenn der alkoholselige Abend vorbei ist, die Masken vom Gesicht genommen sind, der Alltag wieder einkehrt? Und wie werden die für einen Moment aus ihrer Haut geschlüpften und sich selbst erkennenden Menschen reagieren, wenn die Polizei vor der Kneipentür steht und die Masken zurückfordert?

„Die Maske“ ist nicht nur die (vom Umfang her) längste und (von der gedanklichen Verstrickung) vielleicht am schönsten schillernde literarische Perle in Siegfried Lenz´ neuem Erzählband. Sie ist auch, aus gutem Grund, die Titelgeschichte des schmalen Buches, das auf 123 Seiten fünf neue Erzählungen des literarischen Altmeisters vereint. In der Geschichte über das Spiel mit den Masken kommen viele Motive und Themen noch einmal noch einmal zum Vorschein, die seit Jahrzehnten das Werk des inzwischen 85jährigen Autors prägen. Immer wieder hat Lenz, als diskreter Beobachter und stiller Gedächtnisarbeiter, in deutscher Geschichte gestöbert, gegen das Vergessen und Verdrängen angeschrieben, über das Leben als einen unendlichen Prozess des Verlierens, Suchens und Findens fabuliert. Ob in „Deutschstunde“, „Heimatmuseum“ oder „Fundbüro“: Bei Lenz geht es immer um die Literatur als kollektives Gedächtnis der Menschen. Literatur, so scheint es, ist für Lenz das ebenso genaue wie ironische, ebenso stille wie beharrlich Fragen aufwerfende und nach Wahrheiten suchende Zwiegespräch mit dem Leser.

In der Maskierung kommt das Unbewusste und Verdrängte ans Tageslicht, verschwimmen Realität und Utopie, werden Wünsche wahr, zeigt die Fantasie der Wirklichkeit die Zunge. Jedenfalls für einen schönen Moment tröstlicher Erkenntnis. Danach ist die Welt anders, aber nicht immer besser. Und so muss auch der Erzähler jener seltsamen Maskengeschichte erkennen, dass die vermeintlich große Liebe seines Lebens nur eine Illusion war, dass Abschied und Aufbruch das Leben nicht nur erschüttert, sondern auch erweitert. Lenz erzählt von all dem, wie man es von ihm kennt: ruhig und besonnen, unaufgeregt und heiter. Seine Erzählungen sind von Menschen bevölkert, die noch komplizierte Gedanken denken und grammatisch stimmige Sätze formulieren. Sie bellen nicht in Mobiltelefone, hantieren nicht mit Laptops, sind nicht ständig Online. Manche werden das als ein wenig altbacken abtun, aber darf Literatur nicht auch der „Entschleunigung“ des hektischen Alltags dienen und Geschichten erzählen, die sich dem modischen Zeitgeist verweigern?

Da ist zum Beispiel „Ein Entwurf“, die Geschichte über den jungen Sven, der mit dem Leben nicht klar kommt und auf einen Selbstmord zutreibt: Der Erzähler liegt im Krankenhaus neben dem Schriftsteller Fred Haller und wird Ohrenzeuge, wie Haller seiner heftig weinenden Gattin Anja den Entwurf für die traurige Geschichte des unglücklichen jungen Mannes vorliest, der bei einer Schiffstour in den Fluten versinkt. Der Ohrenzeuge hält die Geschichte für wahr und autobiografisch. Doch auf seine Frage: „War es so? Ist Sven ertrunken?“, antwortet der Autor: „Unser Sven ist bei der Geburt gestorben.“ Die Literatur ist eben mehr als Abbild und Beschreibung der Realität, sondern deren Überwindung und Veränderung.

Siegfried Lenz: Die Maske. Erzählungen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2011, 123 S., 17,99 Euro.

Infos:
+ Siegfried Lenz, geboren am 17. März 1926 im ostpreußischen Lyck, zählt zu den bedeutenden und meistgelesenen Schriftstellern der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur.
+ Seine Werke werden in viele Sprachen übersetzt, sind oftmals verfilmt worden und haben mittlerweile eine Auflage von rund 30 Millionen Exemplaren.
+ Wichtige Bücher: „Es waren Habichte in der Luft“ (1951), „So zärtlich war Suleyken“ (1955), „Der Mann im Strom“ (1957), „“Deutschstunde“ (1968), „Heimatmuseum“ (1978), „Exerzierplatz“ (1985), „Fundbüro“ (2003), „Schweigeminute“ (2008).
+ Siegfried Lenz hat viele wichtige Preise erhalten, u. a. den Goethe-Preis, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den Lew-Kopelew-Preis.

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