Was von den Orgien übrig blieb: Der Wiener Aktionist Hermann Nitsch im Hagener Osthaus Museum

Quasi-sakraler Raum in Hagen: vorwiegend blutrote und pechschwarze Großformate mit rituellem Tragegestell als „Altar" in der Mitte. (Foto: Bernd Berke)

Quasi-sakraler Raum in Hagen: vorwiegend blutrote und pechschwarze Großformate mit rituellem Tragegestell als „Altar“ in der Mitte. (Foto: Bernd Berke)

Der Mann hat längst seinen Ruf weg. Den weniger aufgeschlossenen Zeitgenossen galt und gilt er als blutrünstiger Berserker der Kunst, seit er 1962 seine erste Aktion vollzog.

Der Österreicher Hermann Nitsch wurde berühmt-berüchtigt mit den Riten seines oft tagelang ausufernden „Orgien-Mysterien-Theaters“, bei dem vorzugsweise Unmengen von Tierblut über nackte Menschenkörper flossen, etliche Helfer*innen in animalischen Innereien wühlten, intensiv sudelten oder Kreuzigungen simulierten. Im Hagener Osthaus Museum kann man nun einige Relikte dieses Tuns betrachten und Nitschs selbst komponierte Musik dazu hören. Auch Gerüche fehlen nicht beim angestrebten Gesamtkunstwerk.

Sprengwirkung im reaktionären Österreich

Ein äußerer Anlass ist der heuer (natürlich mit einer Aktion) begangene 80. Geburtstag des Zeremonienmeisters, der stets zahlreiche Jüngerinnen und Jünger um sich versammelte, die zu manchem Treiben staunenswert bereit waren. Drei Filme in der Hagener Ausstellung zeugen ausgiebig davon. Man mag da an einen Guru mitsamt seiner Sekte denken und wird wohl nicht vollkommen falsch liegen. Überdies könnte man sich fragen, ob Besucher nicht wenigstens ein gewisses Alter erreicht haben sollten, um derlei Filme zu sehen. Man nenne mich konservativ, aber: So richtig kinderfrei scheint mir diese Ausstellung nicht in all ihren Teilen zu sein.

Der zuweilen überaus tolerante Kunstbetrieb freilich findet dergleichen heute – nicht zuletzt angesichts realer Brutalität – nahezu harmlos und feiert den Klassiker des „Wiener Aktionismus“ als einen Bahnbrecher, der seinerzeit im vielfach reaktionären Österreich befreiende Sprengkraft entfaltet habe.

Fotowände dokumentieren Momente aus Nitsch-Aktionen. (© Originalbilder: Atelier Hermann Nitsch, Fotos von Archiv Cibulka-Frey, Fondazione Morra/Ernesto Mastrascusa, Martin Kitzler - Foto der Bilderwand: Bernd Berke)

Fotowände dokumentieren Momente aus Nitsch-Aktionen. (© Originalbilder: Atelier Hermann Nitsch, Fotos von Archiv Cibulka-Frey, Fondazione Morra/Ernesto Mastrascusa, Martin Kitzler – Foto der Bilderwand: Bernd Berke)

Sein Nachname ist jedenfalls zum Markenzeichen geronnen. Es genügt, einfach nur „Nitsch“ zu sagen. So lakonisch prangt es ja auch auf den ebenfalls präsentierten Weinetiketten aus den Gütern seines eigenen Schloss-Anwesens zu Prinzendorf in Niederösterreich. Befragt, ob er nebst Blut auch Rotwein für seine Bilder verwende, deutet er auf seinen Mund: „Nein, der kommt eher hier hinein.“ Wein ergebe ja auch keine kraftvolle Färbung auf Leinwänden. Er muss es wissen.

Fußspuren auf blutroten Leinwänden

Was aber bleibt? Was ist zu sehen? Ein imposanter Raum in Hagen versammelt, dicht an dicht gehängt und schier auf Überwältigung angelegt, vorwiegend blutrote Großformate noch und noch. Nicht alles ist veritables getrocknetes Blut, dies und das aber eben doch – ganz ohne Koketterie, wie es denn ohnehin reichlich ernst und feierlich zugeht. Prosaischer mutet dies an: Auf einigen Leinwänden finden sich noch Fußspuren, die im Laufe von Aktionen entstanden sind.

Hermann NItsch und Ko-Kuratorin Julia Möbus in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Hermann Nitsch und Ko-Kuratorin Julia Möbus in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Inmitten dieser drangvoll gewaltigen Bilder-Ansammlung erhebt sich ein Gestell, das sich als Trage für rituelle Zeremonien erweist. Man denkt allerdings unwillkürlich an eine Richtstätte, auf der Ungeheuerliches geschehen könnte. Eine Art Messgewand (häufiges Motiv in Nitschs Oeuvre) verweist auf mögliche Opfergaben, ferner auf die Passionsgeschichte, auf die mysteriöse Wandlung von Brot und Wein in der christlichen Liturgie, die denn überhaupt eine kaum je versiegende Hauptquelle der Inspiration ist, sich jedoch auch ins „Heidnische“ oder gar zu Schwarzen Messen hinwenden kann.

Erste Konzepte zu dermaßen entgrenzter Performance und Body Art hat Nitsch bereits um 1957/58 ersonnen, als er 19 Jahre alt war und noch im Bann des Informel gestanden hat. Es scheint so, als habe sich sein Werk hernach nicht allmählich entwickelt, sondern als sei es zu Eruptionen gekommen. Mit den Formen von Fluxus und Happening wurde die Zeit zunehmend reif für seine Aktionen, die auf Basis von ausgeklügelten „Partituren“ ins Werk gesetzt wurden.

Das einzelne Bild zählt nur als Teil des Ganzen

Kein Bild in dieser Schau trägt einen Titel. Nitsch hält dafür, dass man seine Bilder nicht einzeln würdigen solle, sondern gleichsam als Gesamtereignis. Es steht zu vermuten, dass ein solch genereller Zugang sie eventuell auch der „kleinlichen“ Kritik entheben kann. Tatsächlich finden sich bemerkenswerte ästhetische Valeurs in so manchen Bildern. Sind sie quasi nebenher „unterlaufen“ oder sind es gesetzte Zeichen? Kann man, um weiterhin ketzerisch zu fragen, die gleich nebenan (just im benachbarten Emil Schumacher Museum) befindlichen Schöpfungen des Informel-Meisters auch nur irgend mit Nitschs Hevorbringungen vergleichen? Oder waltet da eine ganz andere Kraft?

Detail aus einem „Blut-Bild" von Hermann Nitsch. (Foto: Bernd Berke)

Detail aus einem „Blut-Bild“ von Hermann Nitsch. (Foto: Bernd Berke)

Vitrinen mit alten Zeitungsausschnitten belegen, wie sehr Nitsch (ebenso wie artverwandte Aktionisten, etwa Otto Mühl oder Rudolf Schwarzkogler) ehedem für seine Kunstorgien angefeindet worden ist – beispielsweise auch vom Musiker Yehudi Menuhin (Vorwurf gegen Nitsch: „Gewalt um der Gewalt willen“) oder von der notorischen Tierschützerin Brigitte Bardot, zuvörderst aber von der populistischen österreichischen Presse à la „Kronenzeitung“.

Fast nur tote Tiere verwendet

In Hagen beteuert Nitsch abermals, „99 Prozent“ der in seinen Aktionen verwendeten Tiere seien vorher schon tot gewesen. Nur ganz selten habe man auf der Bühne Tiere geschlachtet, die jedoch ohnehin dafür vorgesehen gewesen seien. Er selbst, so Nitsch weiter, sei ein ausgesprochener Tierfreund, er halte u. a. einige Pfauen, eine Ziege, ein Maultier und fünf Katzen.

Auch solche frühen Fingerübungen von Hermann Nitsch werden gezeigt. (Foto: Bernd Berke)

Auch frühe Fingerübungen von Hermann Nitsch werden gezeigt. (Foto: Bernd Berke)

Die Ausstellung besteht nicht nur aus gigantischen „Blut“-Bildern (oder auch ungemein pastosen Variationen in Schwarz, Gelb oder Blau) und Videos bzw. Fotos der Aktionen sowie einer Art „Apotheke“ mit verwendeten Flüssigkeiten, sondern auch aus ebenso windungsreichen wie peniblen Skizzen und Planzeichnungen.

Dabei entwirft die Phantasie (unterirdische) Labyrinthe und vielleicht gar Verliese als Theateranlagen, sie fabuliert zudem von der Zu- und Abrichtung, der Umwandlung, Auflösung und womöglich Erlösung des menschlichen Leibes und somit der Seele. Manche Arbeit mutet an wie eine geradezu ingenieurhafte Vorschau auf kommende Aktionen. Auch Orgien wollen ordentlich organisiert sein, jedenfalls in deutschsprachigen Landen. Doch nicht nur dort. Man weiß ja, wie einst der Marquis de Sade alle noch so wüsten Körperverrenkungen der sexuellen Qualen geradezu systematisch durchkonjugiert hat.

„Ja, ja und ja“ sagen zur Schöpfung

Nitsch bekennt sich derweil als Freund und Verehrer der Schöpfung, er wolle „Ja, ja und ja sagen“ zum Sein. Er sieht sich in der Tradition von Friedrich Nietzsche und der von ihm postulierten „Ewigen Wiederkunft des Gleichen“. Gerade deshalb habe er immer wieder in Abgründe blicken und selbige darstellen müssen, Leid und Tod gehörten eben zum Leben. Er habe ein metaphysisches Anliegen, seine Kunst sei eine immerwährende „Auferstehungsfeier“. In kleinerer Münze zahlt Nitsch eben nicht.

Und wie kommt gerade Hagen zu dieser Retrospektive? Osthaus-Chef Tayfun Belgin war von 2003 bis 2007 Leiter der Kunsthalle Krems in Niederösterreich, da hat sich der Kontakt zu Nitsch fast wie von selbst ergeben. Die damals schon vorhandenen Pläne zu einer Ausstellung konnten seither noch reifen. Ko-Koratorin ist nun die junge Julia Möbus, die über Nitsch promoviert und auch schon als Akteurin für ihn tätig war, so dass man in ihrem Falle beileibe nicht von grauer Theorie reden kann.

Hermann Nitsch. Eine Werkschau in Hagen. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). Eröffnung am Samstag, 1. Dezember (16 Uhr), Dauer vom 2. Dezember 2018 bis zum 3. Februar 2019. Geöffnet Di-So und Feiertage 12-18 Uhr. 24.12., 25.12 und 31.12. geschlossen. Kein Katalog. Eintritt 7 Euro (Kinder bis 6 kostenlos, ab 6 Jahre 3,50 Euro).  Tel. 02331 / 204-2740. Weitere Infos: www.osthausmuseum.de

image_pdfPDF öffnen / Open PDFimage_printDrucken / Print
Visited 13 times, 1 visit(s) today

Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
Dieser Beitrag wurde unter Glaubensfragen, Kunst & Museen, Theater abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert