Und immer wogt das Werk – Jörg Immendorffs wechselhafte Bilderwelten im Dortmunder Ostwall-Museum

Von Bernd Berke

Dortmund. Die entblößte Frau geht an Krücken. Noch dazu balanciert sie auf zwei Kugeln. Doch wenn man sie so sieht, mag man an ein Wunder glauben: Sie wird, wenn auch staksig, vorankommen.

Das Gemälde, dessen Frauenfigur der altdeutschen Welt des Hans Baldung, genannt Grien entlehnt ist, könnte als Sinnbild für weite Teile des Werkes von Jörg Immendorff (55) stehen. Immer wieder scheint dieses insgesamt so imposante Œuvre ins Stocken oder Schlingern, mithin in produktive Unruhe zu geraten. Doch man kann sich darauf verlassen, dass die Pfade nicht in Sackgassen führen; dass irgendwann eine Wende kommen wird, eine Nahtstelle, ein wegweisendes Schlüsselbild – oder gar ein fulminanter Ausbruch des Neuen.

Erst der Pfusch der frühen Jahre, dann immer wieder die Suche, das Kraut-und-Rüben-Chaos, endlich glücklich gefundene, „geschlossene“ Formen: Mit solch beständigen Wechseln und Wogen lässt sich allemal eine lebendige Ausstellung bestreiten, in der jeder Raum (wie Immendorff gestern bemerkte) „seine ganz eigene Temperatur“ hat.

123 Bilder und elf Skulpturen von Immendorff bietet das Dortmunder Ostwall-Museum auf. Der Überblick umfasst alle Werkphasen des Düsseldorfers, der gewiss zu den prominentesten Künstlern der Republik zählt. Mit ansehnlichen 40000 Mark ist denn auch der Preis der Kulturstiftung Dortmund dotiert, den Immendorff heute in Empfang nimmt. Wer hat, der hat.

Rückblende: Anno 1966 hatte Immendorff ein nahezu fertiges Gemälde mit kräftigen Pinselhieben durchkreuzt und darauf geschrieben: „Hört auf zu malen!“ Die Legende besagt, dass in diesem Moment sein Lehrmeister Joseph Beuys das Atelier betreten und „Spitzenbild!“ gerufen habe. Es soll ein Zündfunke gewesen sein: Fortan strebte Immendorff Bilder jenseits der Bild-Gewissheit an, und allzeit kämpften thematische Vorlieben mit rein malerischen Impulsen.

Früher schlug das Herz ganz links: Plakative Bilder in der (freilich halbwegs reflektierten) Nachfolge eines „Sozialistischen Realismus“ bestimmen Immendorffs Kunst-Kurs der 70er Jahre. In Dortmund finden sich einige Beispiele. Ohne zuweilen faule Kompromisse zwischen Bildlichkeit und Schrift kommen sie nicht aus. Heute betrachtet, ist’s knallrote Nostalgie.

In den 80ern wurde Immendorff, zumal mit seiner Bilderserie „Café Deutschland“, zum Seismographen gesamtdeutscher Tendenzen – wie Martin Walser oder Botho Strauß auf literarischem Felde. Ganze Geschichts-Bühnen tun sich in diesen theatralischen Großformaten auf, der Adlerblick des Künstlers stößt meist von oben auf solche Szenerien. Bilder, an deren Vielgestaltigkeit man sich satt schauen könnte.

Ein Hauptaugenmerk der Dortmunder Auswahl gilt indes Immendorffs jüngstem Schaffen. Man wird Zeuge einer Abkehr vom breit ausgespielten erzählerischen Gestus. Es wirkt wie ein Rückzug von historischen Anklängen, wie eine Zurüstung zum Gang ins Elementare. Vielfach wird surreales Formen-Vokabular erkundet, in ganz eigener, souverän zitierender Kombinatorik. Manchmal schnurrt die vordem so reichhaltige Bilderwelt zum Schattenriss zusammen; oder zum ungeheuer rot pulsierenden, organisch blasenhaften Gebilde. Weniger Inhalts-Oberfläche, mehr Tiefe – ein typisch deutscher Zug?

„Immendorff – Bilder“. Museum am Ostwall, Dortmund. Eröffnung Samstag, 2. September, 17 Uhr. Ausstellung 3. Sept. bis 22. Okt. Di/Mi/Fr/So 10-18, Do 10-20, Sa 12-18 Uhr. Eintritt 4 DM, Katalog 45 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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